Warum ein Engländer zu Dänemark hält: Dänemark zeigt, dass es im Fußball noch Gerechtigkeit gibt
Unser Autor ist in England geboren und hofft trotzdem, dass das dänische Sommermärchen weiter geht – und das nicht, weil sein Vater Däne ist.
Das beste Spiel, das er je gesehen hat, sagt mein Vater immer, war ein WM-Qualifikationsspiel im Kopenhagener Idraetsparkenstadion am 5. Juni 1985. Dank jeweils zwei Toren von Preben Elkjaer Larsen und Michael Laudrup besiegte Dänemark die Sowjetunion mit 4:2, doch das Ergebnis sei eigentlich sekundär gewesen. Viel spannender soll der flüssige, atemberaubende Fußball gewesen sein, den beide Mannschaften geliefert haben.
Noch heute gilt das Spiel als der Höhepunkt dieser wahnsinnigen dänischen Generation, die die Welt mit ihren schönen Trikots und ihrem noch schöneren Fußball begeisterte, aber nie einen Titel gewann. Nach dem Spiel saß der sowjetische Trainer Eduard Malafejew etwas verblüfft vor der Presse. Seine Mannschaft habe nie so gut gespielt wie heute, sagte er, und habe trotzdem verloren.
Am 21. Juni 2021 gewann Dänemark wieder mit vier Toren gegen eine Mannschaft aus Russland. Die Dänen von heute waren zwar nicht so brillant wie damals Michael Laudrup, Frank Arnesen, Preben Elkjaer Larsen und Jesper Olsen, und die Russen hatten dieses Mal alles andere als ihren besten Tag. Anders als mein Vater damals saß ich nicht im Stadion, sondern vor einer Bar in Kreuzberg, wo ich das Spiel lediglich im Fernsehen verfolgte.
Andreas Christensen schießt ein Tor für die Ewigkeit
Aber dieses Spiel wird wohl ähnlich lange in Erinnerung bleiben wie das andere in der Erinnerung meines Vaters. Dieser Moment, als Andreas Christensen aus dem Helmut-Rahn’schen Hintergrund den Ball zum dritten Tor ins Netz knallte, werde ich nie vergessen. Vielleicht sind solche Tore so schön, weil sie so unwahrscheinlich sind. Weil man weiß, dass ein von außerhalb des Strafraums geschossener Ball viel öfter auf dem Parkplatz landet als im oberen Eck. Und wenn er doch reingeht, ist es wie eine lächelnde Rüge des Fußballgotts. Oh, ihr Kleingläubigen! Euch ist doch ein technisch brillanter Innenverteidiger gegeben, der euch jetzt ins Achtelfinale ballert.
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Nach zwei Niederlagen in den ersten beiden Spielen und nach den dramatischen Ereignissen um Spielmacher Christian Eriksen wirkte diese EM wie verflucht für die Dänen. Doch nach dem menschlichen Wunder von Eriksens Überleben kam auch noch das Fußball-Wunder seiner Teamkollegen. Sie haben es trotz allem in die K.-o.-Runde geschafft, und sind dann furchtlos ins Halbfinale marschiert. Dort treffen sie am Mittwochabend im Wembley-Stadion auf England (21 Uhr, ZDF und Magenta).
Eine englische Mannschaft, auf die man stolz sein kann
Ich bin kein Däne. Ich spreche nur sehr schlecht Dänisch, und auch das nur, wenn ich bei meiner Oma zu Besuch bin. Ich bin in England aufgewachsen, mit einem britischen Pass. Ich werde über britische Politiker wütend, und gehe zu Weihnachten und Ostern in die anglikanische Kirche. Ich bin Engländer. Und doch will ich an diesem Mittwochabend nichts mehr, als dass England verliert. Das ist an sich nichts Besonders.
Wie hierzulande gibt es auch in Großbritannien ganz viele, die eher Erleichterung spüren, wenn ihr eigenes Land aus einem großen Turnier ausscheidet. Ihnen wird es mulmig, wenn sie die tausenden von England-Flaggen in den Stadien und den Pubs sehen.
Für eine konservative Regierung, die mit der Gesundheit der Bevölkerung Schindluder treibt, ist der Erfolg der Nationalmannschaft und der damit verbundene Patriotismus-Boom sicherlich auch ein Glücksfall. Seit Tagen ist in jedem Tweet von Boris Johnson oder seiner Minister auch der Hashtag „#itscominghome“ zu sehen. Auch deshalb sind nicht alle Engländer England-Fans.
Doch in diesem Fall ist es bei mir eher nicht politisch. Schließlich gibt es gerade an dieser England-Mannschaft sehr viel, was man guten Gewissens unterstützen kann. Spieler wie Raheem Sterling und Marcus Rashford sind nicht nur als Fußballspieler, sondern auch als mündige Bürger durchaus bewundernswert. Gareth Southgate ist auch ohne seine Weste ein sehr netter Mann. Und von der alten Selbstgefälligkeit und Arroganz des englischen Fußballs scheint zumindest in der Kabine und auf dem Platz keine Spur mehr zu sein.
Die Spieler und die Trainer stehen für ein England, auf das ich stolz sein könnte. Unterstützen werde ich sie trotzdem nicht, denn sie sind nicht meine Mannschaft. Wenn ich die Bilder von tausenden jubelnden England-Fans im Wembley-Stadion sehe, wird mir weder mulmig noch kommen die Tränen. Sie lassen mich einfach kalt.
Es sind ja oft diese Bilder, die wir mit den größten Emotionen des Fußballs verbinden. Gerade in Zeiten der Pandemie haben wir den Rausch des kollektiven Erlebnisses vermisst. Dass ein ganzes Stadion oder ein ganzes Land dasselbe fühlt und dasselbe Gefühl im Gleichtakt ausdrückt, ist tatsächlich einer der Hauptgründe, warum so viele Menschen auf der Welt von diesem Spiel abhängig sind. Die kollektiven Momente sind der Grund, warum wir diese Turniere immer wieder gerne stattfinden lassen: auch wenn sie aus epidemiologischer oder humanitärer Sicht sehr fragwürdig sind.
Jene kollektive Freude ist in diesen Wochen auch in Dänemark vorhanden. Nach dem Trauma von Eriksens Kollaps hat der Erfolg der Dänen wilde Jubelszenen in den Straßen von Kopenhagen ausgelöst. Der erstaunliche Zusammenhalt der Spieler hat auch die Verbindung zwischen Spielern und Fans gestärkt. „Ich wünsche mir, ich könnte mit nur einem Fuß auf dem Radshusplads stehen, um Teil dieser Party zu sein“, sagte der dänische Stürmer Martin Braithwaite nach dem Viertelfinalsieg gegen Tschechien.
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Aber die Emotionen des Fußballs sind nicht immer ein Massenphänomen. Sie sind für viele Leute auch etwas, was man im kleinen Freundeskreis oder in der Familie erlebt. Und manchmal ist der Fußball so verrückt, dass man auch in einem Wohnzimmer oder vor einer Kreuzberger Bar genau dieselbe Freude spüren kann, die man sonst nur als einer von vielen im Stadion erlebt.
Es gibt sie noch, die Romantik im Fußball
Meine früheste Erinnerung an den Fußball verbinde ich nicht mit einem Stadion oder einem Bolzplatz, sondern mit dem Fernseher, auf dem ich mir die Highlights der EM 1992 als Kind immer wieder anschaute. Das Video habe ich als Kind so oft gesehen, dass ich jedes Wort des englischen Kommentators in- und auswendig kannte.
Auch die Bilder dieses Turniers brannten sich bei mir sehr früh ein. Kim Christofte, wie er schon in der Drehung die Arme hochreißt und auf die Knie fällt. Jürgen Klinsmann, wie er verzweifelt auf dem Boden liegt nach einer erneuten Glanzparade von Peter Schmeichel. John Jensen, wie er den Ball von der Strafraumkante ins Netz ballert, und damit sogar sich selbst überrascht.
Ein ähnliches Tor hat Andreas Christensen gegen Russland geschossen. Und mit solchen Momenten haben er und seine Teamkollegen ein neues dänisches Sommermärchen geschrieben, das zumindest bis zu diesem Mittwochabend noch laufen wird. Sie haben der Welt erneut gezeigt, dass es im Fußball und in den Zeiten der Pandemie immer noch Romantik, poetische Gerechtigkeit und pure, grenzenlose Freude geben kann.
Vier Tage nach dem Sieg gegen Russland verbrachte ich zum ersten Mal seit fast einem Jahr wieder Zeit mit meinem Vater. Weil Christensen sein Jensen-Tor geschossen hat, konnten wir zusammen schauen, wie Dänemark im Achtelfinale einen 4:0-Kantersieg gegen Wales einfuhr. Und dafür werde ich Andreas Christensen und seinen Teamkollegen immer dankbar sein.
Ich bin zu jung, um die Künstler des Danish-Dynamite-Teams gesehen zu haben. Auch die EM 1992 fand eigentlich ein Jahr vor meiner Geburt statt, ich kenne sie nur von dem Video. Und von den Erzählungen meines Vaters.
Doch dieses Sommermärchen durfte ich miterleben. Und als Fußballfan habe ich selten so eine intensive, so erhebende Achterbahnfahrt erlebt. Womöglich geht die Reise am Mittwochabend ausgerechnet in meinem Land gegen meine Landsmänner zu Ende. Aber ich war nie stolzer, nie glücklicher, ein Dänemark-Fan zu sein.