Sportökonom über Insolvenz im Profifußball: „Niemand will der Totengräber eines Vereins sein“
Daniel Weimar spricht über die Nöte des deutschen Fußballs in der Coronavirus-Krise – und warum sich für einige Vereine eine Insolvenz lohnen könnte.
Die Coronavirus-Krise setzt dem deutschen Profifußball schwer zu. Die Deutsche Fußball-Liga (DFL), in der die 36 Erst- und Zweitligisten organisiert sind, versucht alles, um den Spielbetrieb wieder aufnehmen zu können. Ansonsten drohen hohe finanzielle Ausfälle, 13 der 36 Klubs sollen laut "Kicker" vor der Insolvenz stehen. Sportökonom Daniel Weimar erklärt, warum ein Insolvenzverfahren derzeit eine charmante Möglichkeit sein kann.
Herr Weimar, um welchen Herzensklub sorgen Sie sich gerade?
Ich bin zwar großer Fußballfan, aber mein Herz hängt an Futsal. Da bin ich als Trainer von Fortuna Düsseldorf auch selbst involviert. Da hat man nochmal eine ganz andere Perspektive auf die Coronavirus-Problematik.
Inwiefern?
Die Gehälter im Fußball werden voraussichtlich stark einbrechen. Sponsoren reduzieren ihr Engagement, Fans können derzeit nicht so konsumieren wie vorher. Vielleicht sehen wir in den unteren Ligen – Verbandsliga abwärts –, dass gar keine Gehälter mehr bezahlt werden. Das ist für andere Sportarten ein Vorteil, weil die darunter leiden, dass Sportler aus unteren Ligen lieber bezahlt Fußball spielen als unbezahlt ihrer eigentlichen Leidenschaft nachzugehen. Gerade im Futsal ist das bitter, weil beide Sportarten doch recht eng beieinander liegen.
Die Coronavirus-Krise sehen Sie also als Gleichmacher unter den Sportarten?
Dadurch, dass der Fußball so stark profitiert hat, ist er nun umso mehr mit Einbußen konfrontiert. Andere – also die jeweiligen Amateurligen der unterschiedlichen Sportarten ohne Entlohnung der Spieler – trifft das natürlich nicht so hart. Die Finanzierungsproblematiken sind dort weniger kritisch.
Das Gegenstück ist der Profifußball: 4,64 Milliarden Euro ist der aktuelle TV-Vertrag schwer, ein Großteil bereits ausgezahlt. Verwundert es Sie, dass laut "Kicker" nun 13 von 36 deutschen Erst- und Zweitligisten mehr oder weniger kurz vor der Insolvenz stehen?
Es ist seit Jahren ein offenes Geheimnis, dass viele Klubs bis hinunter zur viertklassigen Regionalliga ein negatives Eigenkapital ausweisen und damit strukturell überschuldet sind. Die müssten eigentlich auch ohne Corona Insolvenz anmelden. Diesen Vereinen hilft nur eine positive Fortführungsprognose.
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Ein furchtbarer Begriff. Können Sie den kurz ausführen, bitte?
Fußballvereine an der Schwelle zur Bundesliga hangeln sich oft von Jahr zu Jahr – dank einer positiven Fortführungsprognose. Das heißt letztlich nur, dass man in den Büchern zwar verschuldet ist, aber mit Aussicht auf Besserung. Jetzt brechen die Einnahmen wegen Corona aber weg – und damit auch eine positive Fortführungsprognose. Die strukturelle Verschuldung dagegen bleibt.
Klubs wie Zweitligist Karlsruher SC oder der Drittligist 1. FC Kaiserslautern waren schon vor Corona hoch verschuldet. Dort denken die Verantwortlichen nun über Planinsolvenz nach und könnten so die Altlasten loswerden. Wäre es fahrlässig, die Chance auf eine Insolvenz, die keinerlei sportrechtliche Folgen hätte, verstreichen zu lassen?
Wenn man, wie diese beiden Klubs, strukturell überschuldet ist, ist tatsächlich jetzt der beste Zeitpunkt, um die Insolvenz zu organisieren. Die gesetzliche wurde Frist verlängert, man kann also selbst den Zeitplan festlegen. Bisher galt, dass bei absehbarer Zahlungsunfähigkeit ein Antrag auf Insolvenz binnen drei Wochen gestellt werden musste. Nun hätte man bis zum 30. September Zeit. Deswegen können die Klubs das momentan auch offen kommunizieren, dass man eigentlich zahlungsunfähig ist. Vor Corona wäre dann automatisch ein Insolvenzverfahren eröffnet worden, das ist nun nicht mehr so. Die Klubs könnten den Zeitplan jetzt selbst bestimmen.
Und die bisher übliche Neun-Punkte-Abzug-Regel bei Insolvenz haben die Verbände ebenfalls ausgesetzt.
Genau, das ist die sportrechtliche Insolvenzregelung durch DFB, DFL, Regional- und Landesverbände, wobei unterhalb der meisten Oberligen gilt: Sofortabstieg bei Insolvenz. Weil die sportlichen Konsequenzen nun wegbrechen, könnte das zu einem Vorteil für alle Klubs werden, die in den letzten Jahren hohes Risiko gefahren haben.
Die Rechnung lautet also: Insolvenz anmelden, Schulden weg – und alles ist gut?
Natürlich müssen die Gläubiger einem Insolvenzplan erstmal zustimmen, in dem der Schuldenschnitt vereinbart wird. Im Sport tun sie das eigentlich immer.
Zu welchen Bedingungen?
In der Regel erhalten die Gläubiger 0,01 Prozent bis vier Prozent der Summe, die ihnen eigentlich zusteht. Es gibt aber auch Insolvenzverfahren mit Nullquoten. In einem guten Insolvenzplanverfahren lag die Quote bei vier Prozent, Standard ist unter ein Prozent.
Magere Aussichten für die Gläubiger. Woher rührt die hohe Bereitschaft, trotzdem einem solchen Geschäft zuzustimmen?
Der Sport nimmt eine besondere Rolle ein. Sportvereine sind Repräsentanten der Region. Egal ob Politiker, Banken, Kommunen, Investoren, all die Geldgeber – niemand will der Totengräber eines Vereins sein, der das Aushängeschild einer ganzen Region ist. Zweitens – und das ist der Unterschied zur Nicht-Sportwirtschaft – ist die Nachfrage nur temporär verringert ist. Sobald es also sportlich wieder läuft, stimmt auch die Nachfrage wieder. In der Wirtschaft ist es ja so: Wenn ein Produkt keinen Nutzen mehr für die Konsumenten stiftet und nicht mehr gewollt ist – warum soll der Unternehmer das dann durch Insolvenzplanverfahren retten? Aber im Fußball wird das Produkt immer gemocht. Wenn ein Klub zum Beispiel aufsteigt, sind auch die Zuschauer wieder da.
Müsste die Deutsche Fußball-Liga nun prüfen, ob eine Insolvenz nun Corona-bedingt beantragt wird oder aufgrund struktureller Verschuldung?
Das ist hochkomplex, allein schon, weil Abstimmungen dazu lang und aufwendig sind. Und auch rechtlich wäre so eine Prüfung kaum haltbar. Aus meiner Sicht wären die Regularien zu schwammig, um eine Unterscheidung zwischen Vor-Corona-Schulden und Nach-Corona-Schulden machen zu können.
Sie haben einen Beitrag herausgebracht, der den Titel trägt: "Insolvencies in professional football: A German Sonderweg". Worin besteht dieser deutsche Sonderweg?
Dieser Sonderweg ist nur ein wahrgenommener Sonderweg. Eigentlich haben sowohl Wissenschaft wie Stammtisch den deutschen Fußball im europäischen Vergleich immer als den finanziell gesündesten angesehen.
Das stimmt nicht?
Es stimmt nur für die Erste und Zweite Liga, das haben wir haben mit unseren Daten seit 1994 belegen können. Bis heute gab es nur zwei Insolvenzen in der Zweiten Liga, keine in der Ersten Liga - und das war noch vor Gründung der DFL im Jahr 2000. In Frankreich oder England sieht das anders aus. Wir haben uns aber die Zahl der Insolvenzen bis runter zur fünften Liga angeschaut. Und da unterscheidet sich die Insolvenzwahrscheinlichkeit und die Zahl der absoluten Insolvenzen zwischen England, Frankreich und Deutschland eben kaum noch. Das legt nahe, dass es keinen deutschen Sonderweg gibt.
Sinkt mit der Ligazugehörigkeit auch die wirtschaftliche Kompetenz in den Klubs?
Es gibt ein paar Fehlanreize, die Fußballklubs grundsätzlich ermuntern, höhere Risiken in Kauf zu nehmen. Man weiß, dass die Kredit- und Geldgeber jeder Stundung oder einem Insolvenzverfahren dann doch zustimmen, also werden viele Quellen angezapft. Der FC Carl Zeiss Jena, Tabellenletzter der Dritten Liga, hat im Dezember den Zuschlag für ein neues Stadion bekommen. Elf Millionen Euro investiert der Bund, vier Millionen die Kommune, den Rest ein Investor. 15 Millionen Steuergelder – und das für einen vermeintlichen Viertligisten! So etwas ist nur möglich, weil Carl Zeiss Jena antizipieren könnte, dass die Miete selbst in der Oberliga weiter gestundet würde. Es gibt für die meisten Fußballstadien eben keine alternativen Nutzer.
Wie erklären Sie die scheinbare Stabilität der Bundesliga?
Der DFL-Mantel mit den Medienerlösen, die ja ziemlich genau auf die ersten beiden Ligen verteilt werden, ist sehr stark. Aber der deutsche Fußball hat durch die DFL nur ein System geschaffen, in welchem die Probleme und die finanzielle Instabilität auf die dritte, vierte und fünfte Liga abgeschoben werden. In diesen Ligen haben wir in Summe ähnlich viele Insolvenzen als in Frankreich oder England.
Wie wahrscheinlich ist ein Szenario, in dem ein Klub nach einem Insolvenzverfahren komplett dichtmachen muss?
Es gibt immer zwei Ergebnisse in einem Insolvenzverfahren: Das eine ist die Liquidation, also das Ende des Unternehmens – und das andere ist die Planinsolvenz, in dem das Unternehmen bestehen bleibt. In deutschlandweit 124 Insolvenzverfahren von 1994 bis heute gab es nur elf Klubs, die tatsächlich komplett verschwanden. Dafür gibt es viele Fälle, in denen der Originalverein zwar liquidiert wurde, es aber einen Nachfolgeverein gab, der das Spielrecht übernommen hat. Indem man dieses übernimmt, kommt man direkt wieder auf den Markt, den man braucht, um die Nachfrage wieder zu haben. So etwas gibt es nur im Sport, speziell im Fußball.
Können Sie ein Beispiel geben?
Alemannia Aachen ist so ein interessanter Fall. Dort gab es die Alemannia Aachen GmbH. Die meldete Insolvenz an und übertrug die Spieler-Transferrechte für eine Nacht an den Basisverein, den TSV Alemannia Aachen e.V. – und der überschrieb sie einen Tag später auf die TSV Alemannia Aachen GmbH. Diese GmbH hat dann schuldenfrei als neue Hülle weiter in der Regionalliga gespielt. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit im Fußball sehr, sehr gering, dass ein Klub völlig liquidiert wird. Die Angst vor einer Insolvenz im Sport, mit der sich Fans dagegen stemmen, ist eigentlich unbegründet. Die Insolvenz kann dem Verein helfen sich neu aufzustellen, Verträge zu lösen, langfristige Fixkosten loszuwerden.
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Also hielt bislang nur die Neun-Punkte-Abzugsregel viele Klubs davon ab, Insolvenz anzumelden?
Und dann die Angst, in der Öffentlichkeit nicht so toll dazustehen, für Sponsoren nicht mehr so attraktiv zu erscheinen. Vielleicht auch die Bloßstellung – welcher Vorstand will schon eine Insolvenz verkünden, selbst wenn die Schulden auf Fehlern der Vergangenheit beruhen.
Irrationalität schlägt Rationalität, Image die gebotene Vernunft?
Die Entscheidung, keine Insolvenz anzumelden, ist schon rational. Sie wird nur nicht auf ausschließlich ökonomischen Grundlagen getroffen.
Haben Sie einen Lösungsvorschlag, wie das System Fußball wirtschaftlich stabiler dastehen könnte - und vielleicht auch Coronavirus-Krisen besser trotzen könnte?
Corona ist natürlich ein black swan, ein Ereignis, von dem man dachte, dass es so etwas nie geben könnte. Künftig wird man sich gegen den Ausfall von Fußballspielen versichern, rechtliche Regelungen einführen. Dann wird es die Unsicherheit, wie sie jetzt besteht, gebannt. Alle Verträge, mit Spielern, Sponsoren, TV-Partnern und so weiter, werden Handlungsmuster enthalten, die Coronavirus-Fälle absichern. Zudem sollte eine Übertragung von Startrechten auf Nachfolgevereine – wie in Niedersachsen bereits in der Spielordnung verankert – ausgeschlossen werden.