Olympia 2016 in Rio: Nicht glamourös, aber mitreißend
Bei Olympia in Rio läuft nicht alles perfekt. Doch die Brasilianer begeistern mit Improvisationskunst und unverkrampfter Fröhlichkeit.
Die Eröffnungsfeier im Maracana war programmatisch. Vor den Sicherheitskontrollen bildeten sich endlose Warteschlangen, am Ende wurde die Überprüfung am Journalisten-Eingang einfach abgebrochen, weil die Pressevertreter sonst nicht mehr rechtzeitig zu den 70.000 Zuschauern ins Stadion gekommen wären. Im Rundgang im Oberrang war das Licht ausgefallen, weiter unten konnte man ungehindert zum Sammelpunkt der einlaufenden Mannschaften spazieren und hätte in einem unbeachteten Augenblick das offizielle Teamschild von Gabun als Souvenir einsacken können. Der Fackelträger Pelé sagte kurz vor der Zeremonie ab, sein Ersatz Vanderlei de Lima erfuhr erst auf dem Weg zum Stadion von seiner Ehre. In Deutschland wäre das als Desaster empfunden worden. In Rio wurde am Ende auf den Rängen getanzt.
Die Olympischen Spiele von Rio sind Spiele, die es manchmal nicht ganz so genau nehmen. Das ist ganz erfrischend in der Welt des organisierten Spitzensports, der sich selbst häufig so furchtbar wichtig nimmt. „Gambiarra“ heißt die brasilianische Neigung zum Improvisieren, die auch in der Eröffnungszeremonie gefeiert wurde. Auch die Sportler müssen in Brasilien improvisieren. Gerade diejenigen aus den glamourösen Sportarten, in denen sie Spitzenbedingungen gewohnt sind.
Das Inventar ist abgewetzt, aber die Gastgeber sind bestens gelaunt
Da griff ein gestandener Handballprofi wie der Schwede Mattias Zachrisson im Spiel gegen Deutschland einfach selbst zum Wischmopp, weil die Helferinnen recht unbeholfen den feuchten Boden trocknen wollten. Auch Angelique Kerber hat den besonderen Geist dieser Spiele schnell erfasst. „Es ist anders als auf den normalen Tennisturnieren“, sagt sie. „Ich glaube, die brauchen noch ein bisschen Zeit, um zu wissen, wie das so abläuft.“ Die Kielerin hat schon erlebt, wie einer ihrer Ballwechsel unterbrochen werden musste, weil ein Securitymitarbeiter einfach über den Platz spazierte. „Am Anfang war es noch ein bisschen chaotisch“, sagt sie. „Aber sie werden von Tag zu Tag besser.“
Alle können sie auch Geschichten vom olympischen Dorf erzählen, die später wahrscheinlich lustig klingen, weil in der Retrospektive vieles gelassener gesehen wird – von den notorisch verstopften Toiletten etwa. Der Braunschweiger Bogenschütze Florian Floto erzählt leicht irritiert, wie die Teamleitung eine Handwerkerkolonne bestellen musste. Und als die dann endlich fertig war, mussten im Apartment nebenan die Wände aufgestemmt werden, weil mal wieder irgendwas zu reparieren war.
Bei den Seglern an der Marina da Gloria werden alle paar Stunden die Metallgitter neu platziert, sodass sich die ohnehin verwirrenden Wege immer wieder ändern. Den Wasserspringern fiel am Dienstag auf, dass sich das Nass im leicht abgetakelten Sprungstadion über Nacht grün gefärbt hatte. Eine Erklärung hatten die Veranstalter erst einmal nicht. Es könnte an der Umwälzanlage liegen.
Nein, Brasiliens Olympische Spiele sind keine glamourösen Spiele, das war auch nicht zu erwarten. Das Land steckt in einer schweren wirtschaftlichen Krise, keine guten Voraussetzungen für ein rauschendes Fest zu Ehren des internationalen Spitzensports. Es wird kein gigantisches, glitzerndes Megaevent werden wie in Peking oder London. Eher eine lockere Party, auf der das Inventar schon etwas abgewetzt ist, aber die Musik gut und der Gastgeber bestens gelaunt.
Ihr überschaubares organisatorisches Talent machen die Brasilianer durch ihre Herzlichkeit und Begeisterungsfähigkeit mehr als wett. Sie tanzen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, nicht nur bei großen Anlässen wie im Maracana, auch in Wettkampfpausen oder vor dem Popcornstand im Wasserballstadion, und animieren die ausländischen Gäste mit unverkrampfter Fröhlichkeit zum Mitmachen.
Die Brasilianer jubeln auch bei Gelben Karten im Handball
Die Brasilianer haben beileibe nicht in allen Sportarten Expertenwissen, aber das tut ihrer Hingabe keinen Abbruch. Sie jubeln gern, auch in ungewöhnlichen Situationen wie bei einer Gelben Karte im Handball, von der sonst niemand Notiz nimmt. Wenn keiner ihrer Athleten am Start ist, suchen sie sich oftmals Ersatzhelden, die sie anfeuern. Dann wird es bisweilen ohrenbetäubend laut und hoch emotional, kurz darauf ist es in den kaum einmal vollen Stadien wieder still.
Richtig Stimmung kommt auf, wenn die Nationen Lateinamerikas gegeneinander antreten oder die alten Kolonialmächte involviert sind. Vor allem die zuhauf angereisten Argentinier necken den ungeliebten Nachbarn gern mit mehr oder weniger feinfühligen Gesängen wie dem von der Fußball-WM 2014 bekannten „Brasil, decime qué se siente“, der davon handelt, wie die Nachbarn das Land des Gastgebers übernehmen.
Das führt mitunter zu hitzigen Auseinandersetzungen, das Tennismatch des Argentiniers Juan Martin del Potro gegen den Portugiesen Joao Sousa musste wegen einer Rangelei im Publikum unterbrochen werden. Die Stars hingegen werden von den Gastgebern gefeiert. Im Schwimmstadion bricht schon Ekstase aus, wenn Michael Phelps nur auf der Videowand beim Aufwärmen gezeigt wird. Kommt der Rekord-Olympiasieger dann leibhaftig für ein Rennen in die Halle, muss man sich Sorgen um seine Trommelfelle machen.
Rio nimmt es einfach nicht so genau
Bei aller Freude sind die Tage von Rio auch widersprüchliche Spiele. Ihre großen Probleme kann die Megastadt Rio de Janeiro nicht verstecken, sie sind bei jedem Wettbewerb zu sehen. In unmittelbarer Nähe zum Sambodromo etwa türmen sich die Favelas auf, deren Bewohner nur Zuschauer bei diesen Spielen sind. In die Arenen kommt zum großen Teil die Mittelschicht aus ganz Südamerika. Dass die neue U-Bahnlinie gerade noch rechtzeitig fertig geworden ist, hat die meisten Cariocas, die Einwohner Rios, nicht besonders interessiert. Denn sie dient allein der reichen Oberschicht im neuen und Favela-freien Stadtteil Barra.
Deodoro erreicht man weiterhin nur per Bus. Der entlegene Stützpunkt ist einer der bizarrsten Wettkampforte dieser Spiele. Zwischen einem Militärgelände und Favelas wurden hier das Rugbystadion, die temporäre Hockeyarena und die BMX-Strecke aufgebaut. Und ein künstlicher Wildwasserkanal aus Beton für die Slalom-Kanuten, nur ein paar hundert Meter entfernt von einem der üblichen vermüllten natürlichen Flussläufe. Die Anlage soll später in einen Park umgewandelt werden, so ist es zumindest angekündigt. Aber man sollte vermutlich nicht darauf wetten. Rio nimmt es eben nicht so genau.