American Football: NFL - die kaputte Liga
Gewalt, Rassismus, Gesundheitsrisiken: Nirgends gibt es so viele Skandale wie in der National Football League. Nur die Popularität nimmt keinen Schaden. Wie kommt das?
Roger Goodell ist kürzlich nach Houston gereist, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Anfang Februar war die Stadt im US-Bundesstaat Texas noch Ausrichter des Super Bowls, des Endspiels in der National Football League (NFL). Seitdem Hurrikan Harvey mit all seinem zerstörerischen Potenzial über die Millionenmetropole hinweggefegt ist, liegt allerdings kaum ein Stein mehr auf dem anderen, jede Hilfe ist willkommen, ja, notwendig. Also sicherte auch NFL-Chef Goodell Unterstützung zu und lobte sogleich die Profis des ortsansässigen Klubs, der Houston Texans, die sich für ihre Gemeinde einbrachten und bisher mehr als 20 Millionen Dollar an Spenden gesammelt haben. „Stolz auf die Führungsqualitäten, die sie in Houston an den Tag legen“, twitterte Goodell. Es waren starke Worte und starke Bilder, die der 58-Jährige mit seinem Besuch hinaus in die Welt sendete. Vor allem sollten sie suggerieren, dass in der Stunde großer Not auf die mit Abstand populärste Sportliga der USA Verlass ist. Auch Goodell und seine Ehefrau würden selbstverständlich spenden, ließ er ausrichten.
Der Commissioner weiß: Die Football-Liga kann im Herbst 2017 jede halbwegs positive Schlagzeile gebrauchen. In der sechsmonatigen Pause seit dem letzten Super Bowl ging es nämlich selbst in der skandalerprobten NFL äußerst turbulent zu. Ein Überblick.
Ein Skandal kann den nächsten jagen, aber das Ei wieder fliegt
Im Juli veröffentlichen Wissenschaftler aus Boston eine Studie; sie haben 111 Gehirne toter Football- Spieler untersucht und an 110 davon eine chronisch-traumatische Enzephalopathie (kurz: CTE) nachgewiesen – eine neurologische Erkrankung mit Todesfolgen. Dass die wohl physischste aller Mannschaftssportarten der Gesundheit nicht zuträglich ist, war zuvor zwar bekannt und hinlänglich dokumentiert, etwa im Hollywood-Film „Concussion“ (Gehirnerschütterung) mit Will Smith in der Hauptrolle. Aber dieses Ausmaß? Der Aufschrei ist gewaltig.
Wenig später sperrt die Liga Ezekiel Elliott, einen der aufregendsten und spektakulärsten NFL-Spieler. Der Running Back der Dallas Cowboys hat in seiner ersten Profi-Saison zahlreiche Rekorde gebrochen, wegen ihm kommen die Menschen ins Stadion. Nun wird ihm vorgeworfen, gewalttätig gegen seine Freundin vorgegangen zu sein. Das Sportgericht entscheidet: sechs Spiele Sperre. Elliott bestreitet weiterhin alles, sein Berufungsverfahren läuft. Ausgang: offen.
Pünktlich vor dem ersten Spieltag macht Michael Bennett, Star-Verteidiger der Seattle Seahaws, schließlich eine unfassbare Geschichte öffentlich, die sich zwei Wochen zuvor ereignet hat: Am Abend des Boxkampfes zwischen Floyd Mayweather und Conor McGregor wird Bennett in Las Vegas von Polizisten aufgehalten und mit einer Waffe bedroht; ein Internet-Video zeigt, wie ihn die Beamten grundlos zu Boden werfen und malträtieren. „Alles nur, weil ich ein schwarzer Mann bin, zur falschen Zeit, am falschen Ort“, schreibt Bennett bei Twitter, „ich dachte: Ich werde sterben.“ Spätestens seitdem läuft bei allem sportlichen Gerassel in der NFL auch wieder eine Rassismus-Debatte im US-Sport. Als wären Hundekämpfe, Morddelikte, Drogenkriminalität und Kindesmisshandlung – um nur einige Fälle aus den vergangenen Jahren aufzuzählen – nicht schon übel genug.
Und doch verhält es sich mit American Football wie mit anderen populären Sportarten: Ein Skandal kann den nächsten jagen, aber sobald das Leder wieder rollt – oder im konkreten Fall: das Ei wieder fliegt – ist alles vergessen. Zum Saisonauftakt waren von New York bis Los Angeles alle Stadien ausverkauft, bei einem Vorzugspreis ab 99 Dollar pro Stehplatz. Acht von zehn US-Amerikanern interessieren sich für Football, sechs von zehn bezeichnen sich als „Fans“. 33 der 50 meistgesehenen Sportereignisse im Jahr 2016 waren NFL-Spiele, den Super Bowl verfolgten in der Spitze mehr als 170 Millionen Menschen – allein in den USA.
Warum Football die klare Nummer eins im US-Sport ist
„Football ist die ganz klare Nummer eins unter den Sportarten in Nordamerika“, sagt Todd Dybas. Der Journalist der „Washington Times“, der seit Jahren das Geschehen in den vier großen US-Ligen begleitet, hat eine recht einfache Antwort auf die Frage, warum sich die NFL beim Zuschauer weiterhin größter Beliebtheit erfreut und Skandale an ihr abperlen. „Ablenkung ist ein Kern des Sports, die Leute wollen unterhalten werden“, sagt Dybas, „und von September bis Februar gehört der NFL ein Tag in der Woche, an dem sie das Programm bestimmt und an dem die meisten Menschen frei haben: der Sonntag.“ Wenn die Tage kälter und die Nächte länger werden, ist in vielen Haushalten nichts so heilig wie die Übertragung des Spieltags, abgesehen vielleicht vom Kirchgang. Die kurze Saison mit 16 Pflichtspielen pro Team sorgt für unersättliche Nachfrage. „Football befriedigt einfach viele Bedürfnisse auf einmal“, sagt Dybas und zählt auf: außergewöhnliche athletische Fähigkeiten, sporadische Gewalt, einen milliardenschweren Industriezweig aus Sportwetten und „Fantasy Football“ – ein Hobby vieler Fans, vergleichbar mit hierzulande bekannten Manager-Spielen. Und wer selbst damit nichts anzufangen vermag, kann es sich ja mit Bier und Chips bequem machen und dem Zirkus frönen, der sonntags ins heimische Wohnzimmer kommt. Kurzum: Football ist tief verwurzelt in der US-Kultur, ein nationales Heiligtum. Jedenfalls für den Moment.
„Ob das in fünf oder zehn Jahren immer noch gilt, hängt maßgeblich davon ab, wie die Liga in Zukunft mit ihren Problemen umgeht“, sagt Dybas. Gerade die CTE-Studie hat enorme Reaktionen hervorgerufen – auch vonseiten der Liga: Neuerdings verpflichtet sich die NFL, Familien von an Alzheimer oder CTE erkrankten Ex-Profis mit Millionensummen abzufinden – so weit zur materiellen Entschädigung. Auf den Nachwuchs, auf die potenziellen Stars von morgen also, dürfte sich die Studie allerdings negativ auswirken, wie Dybas vermutet. „Immer mehr Mütter nehmen zur Kenntnis, dass American Football ein gefährliches Spiel ist“, sagt der Journalist, auf lange Sicht könne diese Gruppe die Autorität der Liga untergraben wie keine andere, denn: „Es gibt einen Unterschied zwischen kaputten Knien und dem plötzlichen Einsetzen einer Alzheimer-Erkrankung.“ Wenn es um die Gesundheit der eigenen Kinder geht, hört der Spaß verständlicherweise auf.
Auf die anhaltende Rassismusdebatte trifft das nur sehr bedingt zu. Schließlich erleben die USA gerade die Fortsetzung dessen, was Colin Kaepernick zu Beginn der vergangenen Saison in Gang gesetzt hat. Aus Protest gegen politische Verhältnisse und alltäglichen Rassismus weigert sich der ehemalige Quarterback seitdem beharrlich, bei der Intonation der Nationalhymne im Stadion aufzustehen – ein gewaltiger Affront in den USA.
Viele sehen darin den Grund dafür, dass Kaepernick im Sommer keinen neuen Verein gefunden hat, obwohl es sportlich deutlich schlechtere Kandidaten mit festem Job auf seiner Position gibt. „Ich glaube nicht, dass diese Kontroverse die Leute davon abhält, zu den Spielen zu gehen oder den Fernseher einzuschalten“, sagt Dybas, „im Gegenteil“. Traditionell-konservative Fans verfolgen das Geschehen auf der Suche nach Zerstreuung erst recht, weil sie genau wissen, was sie an Spieltagen erwartet: Americana at its best, pathetisch vorgetragene Hymnen, riesige Nationalfahnen und Düsenjets, die vor dem Kick-off über die Arenen donnern.
So gesehen müssen sich die NFL-Oberen nicht um die Zukunft ihres Produkts sorgen. Für die Saison 2017/18 rechnet die umsatzstärkste Liga der Welt mit Rekord-Einnahmen in Höhe von 14 Milliarden Dollar (11,8 Millionen Euro). Zum Vergleich: In der Fußball-Bundesliga sind in der vergangenen Spielzeit geradezu lächerliche 3,24 Milliarden Euro umgesetzt worden.
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