Tour de France: Nairo Quintana will in L’Alpe d’Huez wieder angreifen
Vor der Etappe nach L’Alpe d’Huez am Samstag glaubt Nairo Quintana noch an seine Chance auf den Sieg bei der Tour de France. Dazu müsste er Spitzenreiter Christopher Froome aber noch deutlicher distanzieren als am Freitag.
Nairo Quintana ist ernst geworden. Der Radprofi hat nicht mehr das jungenhafte Lachen, mit dem er 2013 erstmals ins Rampenlicht der Tour de France rückte. Er hat auch nicht mehr diesen verschmitzten Gesichtsausdruck wie beim Giro d'Italia 2014, als er erklärte: „Ich habe mich etwas krank gefühlt.“ Da hatte der Kolumbianer gerade den Giro gewonnen, als bester Kletterer.
Jetzt aber spürt der 25-Jährige die Last der Verantwortung. In der Gesamtwertung der diesjährigen Tour liegt er auf Platz zwei, Quintana ist der einzige Kontrahent, den Spitzenreiter Christopher Froome noch fürchten muss. Am Freitag konnte Quintana dem Führenden eine halbe Minute im Schlussanstieg abnehmen - und er will weiter angreifen. „Bis zum Ziel in L’Alpe d’Huez werde ich kämpfen“, sagte Quintana vor der entscheidenden letzten Alpenetappe am Samstag. „Ich werde meinen Traum nicht aufgeben.“ Der Mann aus den Anden fühlt sich wohl im Hochgebirge, das lässt ihn weiter hoffen, der erste Toursieger aus Lateinamerika zu werden.
Doch Quintana ist nicht mehr das junge Talent, das alle entzückt. Mittlerweile muss er Leistungen liefern. Das heißt den Toursieg. Eine ganze Mannschaft ist um ihn herum gebildet worden. Alejandro Valverde hat seine Leaderrolle zugunsten des zehn Jahre jüngeren Teamkollegen aufgegeben. „Er ist stärker als ich“, sagte Valverde – und fügte sich in die Rolle des Ratgebers und Begleiters, obwohl der Spanier immerhin noch Gesamtdritter ist.
Quintana lässt seine neue Rolle verstummen. Ließ er sich früher noch voller Lebhaftigkeit in taktische Debatten verstricken, so ist er jetzt der größte Phrasendreschautomat im Peloton: „Ja, ich fühle mich gut.“ „Meine Form stimmt.“ Die rhetorische Zurückhaltung hat neben dem Druck auch mit Verständnisproblemen zwischen Alter und Neuer Welt zu tun. Quintana fühlt sich von Europa nicht verstanden. In seiner Heimat Combita, 150 Kilometer nördlich von der Hauptstadt Bogota, lebt und trainiert er auf rund 2800 Metern Höhe und erreicht somit auf natürliche Weise einen erhöhten Hämatokritwert. Ihn kränkt, dass man seine langen Trainingsaufenthalte in der Heimat als ein Ausweichen vor Dopingkontrollen interpretiert. „Kolumbien ist kein Land, das verloren im Dschungel liegt. Wir haben dort auch Dopingkontrollen. Ich bin fünfmal getestet worden“, stellte er klar.
Seine langen Trainingsaufenthalte in Kolumbien machen ihn verdächtig
Zuweilen korrigiert er auch Klischeegeschichten, die über ihn im Umlauf sind. „Nein, wir haben in unserer Familie nie gehungert. Wir hatten immer zu essen, hatten auch etwas Ackerland“, sagte er am Rande dieser Tour. Seine Eltern führten einen kleinen Obst- und Gemüseladen, als Junge half er seinem Vater häufig bei der Ernte. Doch aufs Fahrrad stieg er nicht, um der Armut zu entkommen, sondern schlicht, um zur Schule zu fahren. Immerhin lag auf dem Schulweg ein steiler Berg. Der junge Nairo fuhr ihn als Schnellster. Der Legende nach transportierte er dabei auch das Rad seiner Schwester oder manchmal die Schwester selbst – falls diese Legende denn stimmt. In jedem Fall gehört Quinta die Zukunft des Radsports.
Sein Klettertalent erkannte man früh. Movistar verpflichtete ihn 2012 – und baute ihn langsam auf. Doch gleich in den beiden Jahren darauf erreichte er Platz zwei bei der Tour und gewann den Giro. Mittlerweile fährt auch sein jüngerer Bruder Dayer für Movistar.
Nairo will nun die Tour gewinnen, in den Alpen. 2013 nahm er Froome auf den Etappen dort anderthalb Minuten ab. Vor allem in l’Alpe-d’Huez brillierte er. Quintana muss sich wieder etwas ganz Großes einfallen lassen. Dann wird vielleicht die Anspannung von ihm abfallen. Doch der junge Bursche, der er mal war, wird er nie mehr sein. Die Tour transformiert ihre Protagonisten.