Der HSV darf wieder hoffen: Lewis Holtby: Große Klappe, viel dahinter
Lewis Holtby war beim HSV schon aussortiert. Mit seinen Toren aber ist er bei der Aufholjagd der Hamburger ein entscheidender Faktor. Hält er den HSV in der Bundesliga?
Bruno Labbadia wirkte ziemlich ratlos. Was daran lag, dass Bruno Labbadia einfach ratlos war. Der Trainer des VfL Wolfsburg stand kurz vor der Mittellinie. Er schaute zu seinen Spielern in seinem Rücken, dann in die andere Richtung zur Fankurve, wo einige schwarze Gestalten die Zäune geentert hatten. Was tun? Labbadia schien auch keine Ahnung zu haben. Am Ende gingen die Wolfsburger ein paar Schritte auf ihre Anhänger zu, blieben zehn Meter vor dem Strafraum stehen, klatschten pflichtschuldig in die Hände und verschwanden wieder.
Auf der gegenüberliegenden Seite fand zur selben Zeit das Kontrastprogramm statt. In der Kurve mit den HSV-Fans tobte der Punk, die Mannschaft näherte sich ihnen in geschlossener Formation, und der Mann, der das überhaupt erst ermöglicht hatte, lief am Rande mit. Anfang März hat Christian Titz in scheinbar aussichtsloser Situation als Trainer beim Hamburger SV angefangen.
Von den sechs Spielen seitdem hat die Mannschaft drei gewonnen – und den Abstand auf den Relegationsplatz von sieben auf zwei Punkte verkürzt. „Wir spielen einen ganz anderen Fußball“, sagte Aaron Hunt zum Effekt des Trainerwechsels. „Der Trainer hat einen Plan, steht dahinter und wirft nicht alles nach einem Spiel wieder über den Haufen.“
Christian Titz, 47 Jahre alt und bis vor zwei Monaten im Nachwuchs des HSV tätig, drängte sich trotzdem nicht in den Vordergrund. Da war auch kein Platz. In der ersten Reihe marschierten Kyriakos Papadopoulos und – natürlich – Lewis Holtby der Kurve entgegen.
Holtby ist jetzt ein Poser mit Substanz
Lewis Holtby war ein Poser, ist ein Poser und wird vermutlich immer ein Poser bleiben. Aber während das selbst in der vergangenen Saison, als er nach dem Klassenerhalt mit nacktem Oberkörper vor den Fans tanzte, wie billiges Gehabe und eine hohle Geste wirkte, hat sein Posing jetzt gewissermaßen Substanz. „Wir glauben an uns. Wir glauben an den Fußball, den wir spielen“, sagte Holtby. Am Samstag beim 3:1-Sieg in Wolfsburg erzielte er in der Nachspielzeit der ersten Hälfte und gerade drei Minuten nach dem 1:0, per Kopf das vorentscheidende 2:0. Holtby rannte Richtung Eckfahne, er breitete die Arme aus, formte die Lippen zum Kussmund und trug den Wahnsinn in seinen Augen. Kurz vor der Kurve hob er ab; mit angezogenen Beinen segelte er durch die Luft. Nach der Landung blieb Holtby breitbeinig stehen. Er beugte den Oberkörper nach hinten und streckte die Arme zur Seite, als wollte er die ganze Kurve umarmen.
Als Anhänger des Hamburger SV kann man mit den diversen Rettungen der vergangenen Jahre schon mal durcheinander kommen: Wann war noch mal Fürth? Wann Marcelo Diaz? Und Luca Waldschmidt? Die Silhouette von Holtbys Jubelpose aber könnte man auf T-Shirts drucken, und jeder HSV-Fan wüsste sofort: Ach ja, Klassenerhalt 2018!
Dass der Klassenerhalt überhaupt noch möglich ist, erscheint nach der erratischen Periode unter Bernd Hollerbach ebenso surreal wie die wundersame Rückkehr des Lewis Holtby. Unter Titz’ Vorgänger saß der frühere Nationalspieler am Ende nur noch auf der Tribüne – und auch wenn man Hollerbach in seiner kurzen Amtszeit viele Fehler nachweisen kann, diese Entscheidung war ihm noch am wenigsten angelastet worden. Im Gegenteil: Dass Titz Holtby reaktivierte, erschien anfangs wie ein Freundschaftsdienst. Beide kennen sich seit langem, Holtby hatte Titz einst als Individualtrainer beschäftigt und ihn später dem HSV empfohlen. Inzwischen aber erhebt niemand mehr den Vorwurf der Vetternwirtschaft.
Der HSV und ein Hauch von Tiki-Taka
„Es ist aus der Vergangenheit bekannt, dass Lewis Qualität hat“, sagte Titz. „Momentan ist er ein entscheidendes Puzzleteil bei uns.“ Holtby profitiert von der veränderten fußballerischen Herangehensweise unter dem neuen Trainer – und der HSV profitiert von Holtbys wiederentdeckten Qualitäten. „Ich wusste, dass ich ein guter Kicker bin, aber ich bin keiner für Kick and Rush“, sagte der 27-Jährige. „Wenn du mir Vertrauen gibst, zahle ich das auch zurück.“ Holtby steht seit vier Jahren in Hamburg unter Vertrag, in dieser Zeit hat er neun Tore erzielt – vier davon in den vergangenen fünf Spielen.
Das liegt zum einen daran, dass der HSV dank Trainer Titz seine Liebe zum Ballbesitz entdeckt hat; und zum anderen an Holtbys neuer Positionierung als offensiv orientierter Achter im 4-1-4-1-System. Dadurch, so Hamburgs Trainer, komme er häufiger in den Strafraum und zum Torabschluss. „Wir haben Vertrauen, den Ball in den eigenen Reihen zu halten“, sagte Holtby, der beim eminent wichtigen Auswärtssieg in Wolfsburg, dem ersten seit dem zweiten Spieltag, sogar „teilweise Tiki-Taka“ von seiner Mannschaft gesehen haben wollte. „Wir spielen zum ersten Mal seit vier Jahren Fußball“, behauptete er. „Das sind zwar harte Worte, ist aber die Wahrheit.“
Als Christian Titz im Aktuellen Sportstudio mit dieser Aussage konfrontiert wurde, musste er ein bisschen schmunzeln. „Ich mag Lewis sehr, er ist ein sehr vernünftiger, junger Mann mit einer hohen Sozialkompetenz“, sagte er. „Aber nach Spielende ist er manchmal sehr euphorisiert.“ Im Moment deutet einiges darauf hin, dass der HSV nicht zuletzt dank Holtbys unermüdlicher Euphorie überhaupt in die Lage gekommen ist, den ersten Abstieg der Vereinsgeschichte vielleicht doch noch zu verhindern.