Para-Athlet Heinrich Popow: „Ich habe auch eine große Fresse“
Bei der Para-Leichtathletik-EM in Berlin hat der Sprinter Heinrich Popow nochmal einiges vor. Im Interview spricht er über seine Weltrekorde, Provokationen und das nahende Karriereende.
Herr Popow, am Dienstag werden Sie in Berlin bei der Para-Leichtathletik-EM nach 18 Jahren Ihre Karriere beenden. Was geht in diesen Tagen in Ihnen vor?
Neulich habe ich an diesen Tag in Berlin gedacht und an meinen Abschluss, und da war ich traurig. Heute fühlt es sich so an, als wäre ich froh, wenn alles vorbei ist. Bei mir geht gerade alles drunter und drüber, da ist alles vorhanden. Von Dankbarkeit über Angst, Demut, Freude. Es ist ein Mix, je nach Tagessituation.
Sie halten aber an Ihrem Entschluss fest?
Ich war 18 Jahre lang Leistungssportler, der Sport hat mein Leben extrem eingenommen und geprägt. Jetzt bin ich definitiv bereit für den nächsten Schritt. Ich will ab jetzt den Sport unterstützen – und nicht mehr nur mich selbst. Ich bin nicht mehr bereit, all die Komponenten, die der Leistungssport benötigt, aufzubringen. Egoismus, Arroganz, das harte Training, das will ich alles nicht mehr.
Wie entsteht ein solches Gefühl?
Für mich war das früher alles einfacher, die Leichtigkeit war da, ich habe einfach alles für den Erfolg getan. Ich war gierig! Vielleicht bin ich jetzt satt, ich weiß es nicht. Aber ich bin nicht satt davon, etwas für den Behindertensport tun zu wollen. Ganz im Gegenteil. Ich bin jetzt bereit, etwas neben dem Sport für den Sport zu tun. Mich mit Funktionären anzulegen, die Probleme, die ich als Leistungssportler hatte, offen anzusprechen.
Ist der Behindertensport in Deutschland noch vergleichbar mit Ihrer Anfangszeit?
Absolut nicht! Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die ersten sieben Jahre meiner Karriere würden heute in zwei Monaten abgefrühstückt. Die Anfangszeit meiner Karriere bestand darin, Alltagsprodukte so zu modifizieren, dass man damit Sport treiben kann. Heute hat der Behindertensport eine ganz andere Leistungsdichte. Das liegt aber nicht nur an der fortgeschrittenen Technik, sondern auch an der Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft, an der Trainingslehre, die wir aus dem Nichtbehindertenbereich übernommen haben, und an der Eigenmotivation der Leute. Sie trauen es sich jetzt einfach zu.
War das bei Ihnen anders?
Wissen Sie, vor 18 Jahren, da hatte ich noch Gedanken wie: Ich muss in der Gesellschaft eine lange Hose tragen (aufgrund meiner Prothese, Anm. d. Red.). Die heutige Generation von Sportlern schämt sich nicht mehr für ihre Behinderung. Die geht damit offensiv um, die zieht sich ihre Prothese an und macht einfach. Wir haben jetzt Siebenjährige im Nachwuchsbereich, die auf Kinderprothesen Sport treiben. So etwas gab es früher gar nicht.
Ihnen wurde mit neun Jahren das Bein abgenommen. Wie war das da?
Wenn ich heute in die Schublade mit meinen Prothesenpassteilen schaue, sind da noch Kniegelenke dabei aus meiner Kindheit – und die haben Schweißnähte. Mein Vater hat die Gelenke damals alle zusammengeschweißt, weil die nicht gehalten haben. Ich war viel zu lebendig. Ich bin auf Bäume geklettert, runtergefallen, und sofort war mein Kniegelenk gebrochen. Die Prothesen waren gar nicht darauf ausgelegt, damit aktiv rumzulaufen.
Wie sind Sie dann zum Sport gekommen?
In der Schule hat der Sportlehrer damals zu mir gesagt, ich solle mir lieber ein Attest holen anstatt mitzumachen. Beim Fußballspielen nachmittags wurde ich immer als Letzter gewählt. Selbst beim Tischtennis hatte der Trainer zu große Bedenken. Ich wollte aber einfach normal sein. Aber was heißt schon normal? Den Begriff normal kann dir niemand erklären. Aber bei mir haben immer gleich alle gesehen, dass ich nicht normal bin.
Wie sind Sie zur Leichtathletik gekommen?
Irgendwann bekam ich einen Anruf aus Leverkusen und stellte mich bei Bayer 04 vor. Im ersten Wettkampf über 100 Meter bin ich die zehntbeste Zeit der Welt gelaufen. Da habe ich gemerkt, dass ich so die Grenzen meiner Behinderung, die Grenzen meiner selbst herausfinden kann, ohne dass mir das die Gesellschaft erzählt.
Popow über sein Vorbild Robert Harting
Haben Sie diese Grenzen erreicht?
Ich hätte mir nie zu träumen gewagt, dass für mich eine solche Karriere herauskommt. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass mit einer Behinderung noch mehr möglich ist, als ich es in diesen 18 Jahren gezeigt habe. Die Grenzen meiner Behinderung bekomme ich erst jetzt mit meinem Alter zu spüren. Ich bin nicht mehr bereit, mich noch mehr zu pushen.
Sie haben immerhin Weltrekorde über 100 Meter, den Sie kürzlich verloren haben, und im Weitsprung aufgestellt.
Auch den im Weitsprung werde ich noch verlieren. Ich bin mir bewusst, dass das kein Weltrekord war wie von Bob Beaman über acht Meter neunzig.
Sie haben in Ihrer Karriere alles gewonnen. Was bleibt von diesen 18 Jahren Leistungssport für Ihr Leben?
Da bleibt alles. Da bleibt die Persönlichkeit, die ich jetzt bin. Da bleibt ein Mensch, der sich extrem viel zutraut, der keine Angst hat vor Zielsetzungen. Ich habe im Leistungssport alle Ziele erreicht. Aber ich bin auch gescheitert. Ich bin sehr dankbar für jede einzelne Erfahrung, ich war mal unten, war mal oben, war mal unten, war mal oben, es war alles vorhanden, ich habe alles durchgemacht.
Auch Diskuswerfer Robert Harting steht vor dem Karriereende. Haben Sie kürzlich seinen letzten EM-Auftritt verfolgt?
Ich habe jeden seiner Würfe inhaliert. Es gab Momente, da dachte ich: Junge, Junge, das könntest jetzt du sein. Ich hatte eine Gänsehaut! Wissen Sie, ich kann mich zu hundert Prozent mit der Person Robert Harting, mit seinem ganzen Auftreten identifizieren, ich mag ihn als Quertreiber. Er ist ein Riesentyp von Mann, der in seinem Kern aber ein weiches Herz hat und sich für die Dinge einsetzt, die ihm wichtig sind. Ich bin auch so.
Was meinen Sie damit?
Ich habe auch eine große Fresse. Aber wenn ich dann abends alleine zu Hause sitze und wieder ein Shitstorm über mich hereinbricht, weil ich irgendwas Böses gesagt habe, dann tut mir das in diesem Moment auch irgendwie leid. Dann frage ich mich aufrichtig: Mensch Heinrich, musste das denn jetzt wieder sein? Aber am Ende des Tages musste es sein!
Harting wirkte bei seinem Abschied von der großen Bühne etwas verkrampft. Was haben Sie sich vorgenommen?
Mein ganzes vergangenes Jahr war schon davon geprägt, dass ich Angst hatte, mich emotional vorzubereiten. Vor so einem Saisonhighlight wie jetzt in Berlin kommt es ja nicht nur auf die körperliche Vorbereitung an, sondern auch auf die mentale. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich es für die EM nicht geschafft habe, mich mental vorzubereiten. Nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht konnte.
Wovor haben Sie Angst?
Ich habe Angst davor, eine zu hohe Emotionalität aufzubauen. Dass ich – wenn ich den Wettkampf nur auf den Erfolg vorbereite – am Ende in so eine Leere falle. Ich werde mich in Berlin auch nicht an irgendwelchen Platzierungen messen lassen. Mein Abschluss in Berlin steht stellvertretend für 18 Jahre Karriere von mir.
Sie machen in den vergangenen Tagen viele Dinge, die Sie die letzten 18 Jahre tagein tagaus gemacht haben, zum letzten Mal. Haben Sie sich das mal so vorgestellt?
Am Dienstag hatte ich meinen letzten Trainingssprung. Ich stand beim Anlaufpunkt und dachte: Scheiße, Mann! Ich meine, da stelle ich mich seit 18 Jahren hin! Ich stelle mich an den Grashalm xy – und das ist mein Anlauf! Es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Wenn man so kurz vor dem Karriereende steht und all die Dinge zum letzten Mal macht, ist das wie die eigene Beerdigung vorzubereiten. Und das macht man ja nicht so gerne! Komisch. Ganz komisch. Karriereende ist scheiße! Aber es gehört zum Sport eben dazu.
Heinrich Popow, 35, ist einer der erfolgreichsten deutschen Leichtathleten im Behindertensport. Der Weitspringer und Sprinter tritt bei der am Montag beginnenden Para-Leichtathletik-EM im Berliner Jahnsportpark zum letzten Mal an.