Nach der "großen Sache" in Wolfsburg: Hertha BSC ist jetzt reif für mehr
Das gedrehte Spiel beim VfL Wolfsburg zeigt, wie weit Hertha BSC schon gekommen ist. Bis zum Fest wollen sich die Berliner nun noch Fett anfressen.
Über dem Schenckendorffplatz kämpfte die Sonne gegen den Hochnebel. Das Gelände war in ein milchiges Licht getaucht, der Trainingsplatz von Hertha BSC von einer Schicht Raureif überzogen. Pal Dardai, der Trainer des Berliner Fußball-Bundesligisten, kam als Erster, er betrat die unberührte Winterlandschaft und hinterließ seine Fußspuren auf dem Rasen. Es war ein Bild mit Symbolcharakter: Auch Dardais Mannschaft hinterlässt gerade in der Bundesliga klar erkennbare Fußabdrücke. Die Berliner bewegen sich trittsicher durchs Gelände. Das 3:2 tags zuvor beim VfL Wolfsburg war der erste Auswärtssieg nach zuvor fünf vergeblichen Versuchen in der Fremde.
Es läuft für Hertha: Nach 13 Spieltagen kommt die Mannschaft auf mehr als zwei Punkte pro Spiel. 27 sind es aktuell. „Ein außergewöhnlicher Zwischenstand“, wie Manager Michael Preetz findet. Das stimmt. Noch nie stand Hertha zu diesem Zeitpunkt so gut da. „Das bedeutet mir nichts“, sagte Pal Dardai über den Vereinsrekord. „Die Tabelle jetzt lügt nicht, aber das Ende ist noch weit.“
Drei Spiele stehen bis zur Winterpause noch aus, aber die Berliner haben gute Aussichten, das Fußballjahr erneut mit einer exzellenten Platzierung zu beenden. Dritter sind sie aktuell. In den beiden ausstehenden Heimspielen treffen sie noch auf die beiden Abstiegskandidaten Bremen und Darmstadt, dazwischen müssen sie beim Tabellenführer Rasenballsport Leipzig ran. „Wir sind noch in der Sammelphase“, sagte Dardai. Und angesichts der bisherigen Auftritte dürfe die Mannschaft ruhig frech sein mit ihren Zielen. „Wir wollen noch richtig viele Punkte holen.“
Hertha will sich bis zum Fest noch ein bisschen Fett anfressen – gerade nach den Erlebnissen der Vorsaison. Auch da lag die Mannschaft an Weihnachten auf Platz drei, in der Rückrunde aber ging es Hertha an die Substanz. Am Ende hatten die Berliner nichts mehr zuzusetzen, sie verloren Platz um Platz und liefen schließlich als Siebter ein. Gerade diese Erfahrung hat sie zu einer gewissen Demut erzogen. Und andererseits ihren Ehrgeiz geweckt. „Wir sehen, was wir für eine Riesenchance haben“, sagte Innenverteidiger Sebastian Langkamp. „Wenn du diesen Lauf hast, musst du ihn auch ausnutzen – zumal einige Mannschaften hinter uns nicht konstant punkten.“
In Wolfsburg meisterten die Berliner sogar eine ganz neue Herausforderung. Der VfL, vor anderthalb Jahren noch eine große Nummer in der Liga, wirkte in seiner ganzen Anmutung wie ein Abstiegskandidat, der es nur auf Verhinderung anlegte und die Dreierkette zur Fünferkette ausweitete. So spielen Mannschaften gegen Bayern und Dortmund – und jetzt offenbar auch gegen Hertha. „Daran müssen wir uns gewöhnen“, sagte Langkamp. „Das ist der nächste Schritt.“ Als Tabellendritter werden die Berliner in Zukunft automatisch als Favorit in die meisten Spiele gehen und damit zwangsweise häufiger auf ultradefensive Gegner treffen. „Wir waren gut darauf eingestellt“, sagte Stürmer Julian Schieber. „Natürlich ist der Raum eng. Wir haben trotzdem ein paar Chancen herausgespielt.“
Dardai bescheinigte seiner Mannschaft einen Auftritt „mit Geduld, mit Ordnung, mit System“. Bei Hertha gehe es nicht um sinnlosen Ballbesitz. „Wir wissen immer, wo wir die Aktion zu Ende bringen wollen. Dafür brauchst du Geduld.“ Obwohl die Berliner das Spiel eindeutig dominierten und auf zwei Drittel Ballbesitz kamen, liefen sie nie Gefahr, von Wolfsburg ausgekontert zu werden. Ein einziges Mal schaltete der VfL nach der Pause mit Zug um; am Ende eines langen Weges aber brachte Mario Gomez nur ein lauwarmes Schüsschen zustande, mit dem Torhüter Rune Jarstein keine Probleme hatte.
Trainer Dardai hatte seinen Spielern in der Pause prophezeit, wie es kommen werde: dass sie trotz Rückstand dran bleiben müssten, dass die Wolfsburger sich von Minute zu Minute weiter zurückziehen und nur noch den knappen Vorsprung würden verteidigen wollen. „Wir haben das letztes Jahr auch oft so gemacht“, sagte der Ungar, „wir haben irgendwie einen Schritt nach hinten gemacht, anstatt nach vorne zu verteidigen.“
Herthas Spieler besitzen inzwischen eine innere Ruhe, die sie vor einem Jahr noch nicht hatten. Sebastian Langkamp nennt es „die gewachsene Mentalität im Team“. Und Dardai findet: „Durch letztes Jahr haben wir sehr viel gelernt. Wir trauen uns mehr zu.“ In der Vorsaison ließ sich die Mannschaft durch Rückschläge noch zu leicht aus der Fassung bringen. „Wir sind in Panik geraten und haben die Spiele verloren“, sagte Stürmer Salomon Kalou, der in Wolfsburg in der Nachspielzeit per Elfmeter das 3:2 erzielt hatte. „Jetzt haben wir die Stärke, zurückzukommen und das Spiel zu drehen.“ In Wolfsburg gab es genug Schläge, die Hertha vor einem Jahr aus dem Gleichgewicht gebracht hätten. Die Mannschaft geriet früh in Rückstand, kassierte unmittelbar nach dem Ausgleich das 1:2 – trotzdem steckte sie nicht auf, wollte nach dem 2:2 auch noch den Sieg. „Ein Spiel zu drehen in der Bundesliga, gerade auswärts – ich glaube, das ist eine große Sache“, sagte Pal Dardai. Das stimmt wohl. Vor eigenem Publikum war Hertha das auch eine Woche zuvor, beim 2:1 gegen Mainz gelungen. Davor hatte es das für die Berliner seit Oktober 2014 nicht mehr gegeben.
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