Borussia Dortmund: Erik Durm: Der unbekannte Weltmeister
Erik Durm ist Weltmeister und kaum einer weiß das. Nach der WM war er oft verletzt, pünktlich zum Derby gegen Schalke ist er wieder in Topform.
Einmal hätte er beinahe doch gespielt. Im Viertelfinale gegen Frankreich, als die tief über Rio stehende Sonne aus dem Maracana ein Treibhaus machte und Benedikt Höwedes sich mit einer kleinen Verletzung plagte. Was das genau war, weiß Erik Durm nicht. Ist ja auch schon ein Weilchen her, aber er kann sich noch gut daran erinnern, dass Joachim Löw ihm ein Zeichen zum Warmmachen gab „und mein Puls sofort ein bisschen schneller ging“. Im Kopf ist er die möglichen Szenarien durchgegangen. Was ein Fehlpass bedeuten könnte oder eine gelungene Flanke oder gar ein gelungener Torschuss.
Egal. Höwedes schüttelte sich und spielte weiter, also hat Durm sich wieder auf seinen Stammplatz gesetzt. Auf die Ersatzbank, wo er ein paar Tage später aus bester Perspektive das sagenumwobene 7:1 über Brasilien bestaunte und im Endspiel Mario Götzes Kunststoß zum 1:0 gegen Argentinien, das auch ihn auf die größte aller Bühnen hob.
Erik Durm ist der unbekannte Weltmeister. Er war mittendrin und doch nicht richtig dabei, jedenfalls nicht im kollektiven Empfinden der Fußball-Nation. Bei der Aufzählung aller 23 Weltmeister kommen wahrscheinlich nur ausgewiesene Experten, Statistik-Nerds und enge Freunde auf den Flügelspieler aus Dortmund, der mit der Erfahrung von eineinhalb Bundesliga-Spielzeiten und einem Länderspiel nach Brasilien gereist war. Durm gilt der Allgemeinheit als One-Summer-Wonder des dritten Jahrtausends. Als einer, der seinen Karrierehöhepunkt passiv als 22-Jähriger erlebte und danach in der grauen Anonymität des gehobenen Bundesliga-Mittelmaßes verschwand.
Das ist alles naheliegend und doch falsch gedacht. Ja, es ist nach der Sternstunde von Maracana still um Erik Durm geworden, aber das liegt nur bedingt an ihm. Drei Jahre lang plagte er sich mit Krankheiten und Verletzungen. Kaum hatte er sich wieder herangekämpft, kam der nächste Rückschlag. Jetzt ist er wieder da, stärker und präsenter noch als in jenem Sommer 2014, als Joachim Löw sich in den Speed und die Unbekümmertheit des Dortmunders verguckte. Wenn ihm eine Flanke gelingt oder ein Dribbling missrät, dann wird das nicht dem Flügelspieler Erik Durm zugeschrieben werden, sondern dem Weltmeister Erik Durm. Und wenn Borussia Dortmund heute im Revierderby auf den FC Schalke 04 trifft, wird er nur wegen einer kurzfristigen Muskelverletzung nicht zum Stammpersonal um Torhüter Roman Bürki oder Torjäger Pierre-Emerick Aubameyang gehören.
Tore, Fehlpässe, Platzverweise des Bundesliga-Alltags sind nach ein paar Wochen vergessen. Weltmeister bleibt man ein Leben lang und drüber hinaus. Wie lebt es sich mit diesem Label? „Lässt sich schon aushalten“, sagt Erik Durm, „ist ja nicht das schlechteste. Aber ich bilde mir auch nichts darauf ein. Ich stelle mich nicht hin und sage: Schaut mal, ich bin Weltmeister! Warum auch?“
Erik Durm ist 24 Jahre alt, ein hochaufgeschossener Mann, der mit Bartflaum und zarter Statur immer noch wenig bubenhaft wirkt, vielleicht wird er auch deshalb unterschätzt. Als B-Jugendlicher war er Torschützenkönig in der A-Jugend des 1. FC Saarbrücken und wurde noch in der zweiten Mannschaft von Mainz 05 von Trainer Martin Schmidt als „klassischer Strafraumspieler“ geschätzt. Weiß heute kaum noch einer. Nach dem Wechsel zu Borussia Dortmund im Sommer nahm ihn Jürgen Klopp mal zur Seite. „Ich hatte Mühe, mich gegen die 1,90-Meter-Riesen durchzusetzen, zwischen Jugend- und Männerfußball ist das schon ein Riesen-Unterschied“, erzählt Durm. „Kloppo hat gesagt: Für ganz oben wird es als Stürmer nicht reichen. Aber als Außenverteidiger hätte ich eine Perspektive, ich sollte mir das mal durch den Kopf gehen lassen.“
Ein Jahr später war er Stammspieler im Klub und noch ein paar Monate später Weltmeister. Und der ganze Stress begann.
In der Nationalmannschaft reichte es noch zu ein paar Spielen, von denen vor allem die WM-Revanche gegen Argentinien in Erinnerung geblieben ist. Sein direkter Gegenspieler war Angel di Maria, vierfacher Vorbereiter von vier Toren beim argentinischen Vierzwei, aber damit konnte Durm leben – „di Maria ist ein Weltklassespieler, er hatte einen überragenden Tag, da passiert so was schon mal“.
Durm ist in der Dortmund aktuell der einzig verbliebene Stammspieler aus dem WM-Kader
In der Bundesliga fiel ihm das Abhaken nicht so leicht. War nicht so einfach in der unmittelbaren Vergangenheit nach Rio. Dortmund hatte bei der WM zwar nur einen Stammspieler, den Innenverteidiger Mats Hummels und litt doch wie kein anderer Klub an den Mühen der Etappe. Die erste Halbserie nach der WM empfindet Durm im Rückblick „als eine einzige Katastrophe. „Da hat gar nichts geklappt und auf einmal standen wir in der Tabelle auf dem letzten Platz. Da guckst du dann auf die Statistik und sagst dir: Verdammt, du warst ja bei fast allen Spielen dabei!“ Hat er sich über Gebühr kritisiert gefühlt, etwa so was wie einen Weltmeister-Malus gespürt? „Nein, das ging schon in Ordnung, ich habe da keine zusätzliche Belastung gespürt, weil ich jetzt der Weltmeister Durm war. Fußball ist ein schnelllebiges Geschäft, das weiß man, wenn man sich darauf einlässt.“
Zu den allgemeinen Dortmunder Problemen kamen ganz persönliche. Pfeiffersches Drüsenfieber, linkes Knie, rechtes Knie, Durm hat nichts ausgelassen. „Das war schon hart. Wenn Freunde mich besucht haben, wollten die mit mir ausgehen, aber ich hatte zu gar nichts Lust, kein Kino, kein Café, gar nichts. Dann schaltest du den Fernseher ein und siehst die Sportnachrichten, da wirst du wieder damit konfrontiert.“
Die WM hat den Dortmundern nicht unbedingt Glück gebracht. Mats Hummels haben sie an den FC Bayern verloren, Matthias Ginter ist bis heute ein hochgeschätzter Ersatzspieler, auch Roman Weidenfeller erfreut sich an einem Stammplatz auf der Bank, und Kevin Großkreutz... nun ja. Dreieinhalb Jahre danach ist Erik Durm der einzige Weltmeister, der in Dortmund auf höchstem Niveau spielt. Ein Umstellungsgewinner, Profiteur der Dreierkette, die in der Defensive zu einer Fünferkette wird und Platz schafft für zwei zusätzliche Flügelspieler, die neben den Außenverteidigern keine direkten Deckungsaufgaben zu versehen hat und alle Freiheiten in der Offensive genießen. „Diese Position ist schon ein kleines Stück zurück auf dem Weg zu meinem früheren Job als Stürmer“, sagt Durm. „Aber ich muss auch viel nach hinten arbeiten, sehr viel laufen“, wahlweise auf der linken oder rechten Seite. Sein Trainer Thomas Tuchel schätzt ihn als einen, „der mit seinen körperliche Voraussetzungen unserem Spiel gut tut. Erik ist sehr flexibel einsetzbar, das lieben die Trainer, weil es ihnen immer neue Möglichkeiten eröffnet.“
Tuchel hatte Durm schon zu seiner Mainzer Zeit im Auge und hätte ihn damals gern zu den Profis hochgezogen. Aber der eine ging früh nach Dortmund und dem anderen bleibt in der Retrospektive nur die Freude darüber, „dass Jürgen Klopp den Erik zum Verteidiger umfunktioniert hat. Auf die Idee sind wir leider nicht gekommen.“ Stimmt nicht ganz, sagt Durm. „Tuchel wollte mich in Mainz schon ins Mittelfeld stellen, aber dann bin ich nach Dortmund gegangen.“ Jedenfalls profitiert er bis heute von seiner Neuerfindung, „obwohl mir das am Anfang schon brutal schwer gefallen ist“. Durm hat den Fußball noch mal neu lernen und sich neu in ihn verlieben müssen, „denn ich hab schon wahnsinnig gern im Angriff gespielt und sehr gern Tore geschossen.“
Dafür ist er in Rio Weltmeister geworden und gehört jetzt in Dortmund wieder zur Stammbesetzung. Und die Nationalmannschaft? Was die Statistik betrifft, ist der Dortmunder aus der Pfalz ein One-Summer-Wonder geblieben. Das letzte seiner sieben Länderspiele hat er zum Ausklang des WM-Jahrs 2014 in Spanien bestritten. Macht ihn die neue Position wieder interessant für Aufgaben jenseits des Westfalenstadions? „Das sollen andere entscheiden“, sagt Erik Durm. „Ich werde mich ganz bestimmt nicht hinstellen und sagen, dass ich wieder dabei sein soll.“ Und überhaupt: „So oft denke ich nicht an die WM, was soll das auch schon bringen? Ich lebe im Hier und Jetzt, nicht in der Vergangenheit.“