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Pappkameraden: Fans von Borussia Mönchengladbach konnten ihren eigenen Pappaufsteller in der Fankurve aufstellen lassen.
© Moritz Müller/Imago

Was die Fanszenen von Geisterspielen halten: „Eine tief sitzende Angst von Fußballfans“

Die Krise muss Konsequenzen für den Profifußball haben – da sind sich die aktiven Fans einig. In Sachen Geisterspiele gehen die Meinungen jedoch auseinander.

Das Spiel auf der Leinwand, der Kommentar im Radio und die Fans in den Autos. So in etwa stellt man sich beim FC Midtjylland die ersten Spiele nach der Coronavirus-Krise vor. Drive-In-Fußball, so lautet die Antwort des dänischen Topklubs auf mögliche Geisterspiele: Wenn die Fans schon nicht ins Stadion können, dann sollen sie wenigstens auf den Parkplätzen davor in ihren Autos die Partien verfolgen können. Bis zu 10 000 Fans sollen so auf den 2000 Parkplätzen vor der Arena in den Genuss der Spiele kommen, hat der Klub unlängst verkündet.

So richtig glücklich ist natürlich niemand mit den aktuellen Optionen zur Fortsetzung der Fußballsaison. Ohne Stadionpublikum, da sind sich eigentlich alle einig, macht das Ganze nicht mal halb so viel Spaß. In Köln will man im Fall der Fälle wenigstens eine Geister-Choreo mit Bannern, Fahnen und Plakaten auf den leeren Rängen ermöglichen, in Mönchengladbach sollen Pappfiguren mit den Fotogesichtern von Fans die Plätze besetzen. Trommelroboter und Anfeuerungsapps sind im Fußballkosmos anscheinend auch nicht mehr undenkbar. Kommende Spiele werden eine andere Atmosphäre haben, das ist jetzt schon klar.

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Am unglücklichsten macht die Situation natürlich die Fans selbst, vor allem diejenigen, die aus der aktiven Szene stammen. Am Donnerstag werden sich die Verantwortlichen der 36 Profiklubs aus Erster und Zweiter Liga erneut beraten. Und auch wenn sie dann noch keinen Termin für einen Neustart festlegen wollen, so sorgen die Pläne der Deutschen Fußball-Liga (DFL), die Saison mit Geisterspielen zu Ende zu bringen, unter den Fans schon länger für Unmut.

In den vergangenen Tagen haben verschiedene Bündnisse Statements veröffentlicht, in denen sie vor allem eines der Hauptargumente des Profifußballs entkernen: Dass Fans und Gesellschaft durch die Saisonfortsetzung ein Stück Lebensfreude zurückgegeben werde. Vielmehr kehren sie die Argumentation um und fordern die Profiklubs dazu auf, sich nicht selbst von der gesellschaftlichen Entwicklung abzukoppeln und stattdessen das eigene Geschäftsmodell zu überdenken.

Dazu wird allenthalben die Coronavirus-Metapher vom „kranken Profifußball“ bemüht: Er gehöre „weiterhin in Quarantäne“ heißt es etwa vom Ultra-Bündnis „Fanszenen Deutschland“; man wolle „nicht mehr über Symptome diskutieren“, schreibt die Fan-Organisation „Unsere Kurve“.

Anti, anti: Das Konzept Geisterspiel passt nicht in die Welt der aktiven Fußballfans.
Anti, anti: Das Konzept Geisterspiel passt nicht in die Welt der aktiven Fußballfans.
© David Hagemann/Imago

In ihrer Analyse der Lage sind sich die verschiedenen Bündnisse dabei weitgehend einig: Ein Milliardenbusiness, das schon nach zwei Monaten Zwangspause vor dem Kollaps steht, wirtschafte offenbar nicht nachhaltig genug. Stattdessen habe sich der Profifußball den Rechteinhabern ausgeliefert: Gespielt werde nicht mehr für die Fans, sondern für das Geld.

Die geplanten Geisterspiele, die vor allem das wirtschaftliche Überleben der Profiklubs sichern sollen, treiben dieses Prinzip nun auf die Spitze. „Spiele ohne Publikum im Stadion bedienen eine ganz tief sitzende Angst von Fußballfans“, sagt Michael Gabriel, der als Chef der Koordinationsstelle Fanprojekte in den Austausch unter Fans und Verbänden eingebunden ist. Die Fans sähen ohnehin die Gefahr, „dass sie vergessen werden und hinten runterfallen“, erklärt er: „Bei Geisterspielen wird diese Angst jetzt ins Extrem gedreht.“

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Dass es dazu kommen wird, ist mit Beginn der Woche wahrscheinlicher geworden, denn nun sendet auch die Politik Signale, dass es im Mai wieder losgehen könnte – auch wenn das Innenministerium aktuell noch keinen konkreten Termin in Aussicht stellen will. Die nötigen Ausnahmegenehmigungen würden die Länder unter den gegebenen Voraussetzungen jedoch erteilen, das hat etwa der Berliner Senat für Geisterspiele von Hertha BSC und dem 1. FC Union mitgeteilt.

Während sich die Einschätzung der Lage durch die verschiedenen Fanszenen also weitgehend deckt, unterscheiden sich jedoch die Konsequenzen, die sie daraus ziehen. Die „Fanszenen Deutschland“ sind etwa strikt gegen die DFL-Pläne: „Eine baldige Fortsetzung der Saison wäre blanker Hohn gegenüber dem Rest der Gesellschaft“, schreiben die Ultras.

Wem gehört der Fußball? Die Fans des FC Bayern München haben dazu eine klare wie dialektgefärbte Meinung.
Wem gehört der Fußball? Die Fans des FC Bayern München haben dazu eine klare wie dialektgefärbte Meinung.
© Renate Feil/Imago

Andere Organisationen wie das gemäßigtere Bündnis „Pro Fans“ sind hingegen zwiegespalten und erteilen Geisterspielen keine generelle Absage: „Die Leute wollen natürlich nicht, dass ihr eigener Verein ins Gras beißt“, sagt Sprecher Sig Zelt. „Da werden auch im Zweifelsfall die härtesten Ultras lieber die Kröte schlucken.“ Zelt betont jedoch auch: „Zu 95 Prozent gibt es da Übereinstimmung, was den Inhalt betrifft.“

Das Dilemma der Fans hat auch Michael Gabriel im Dialog mit DFL und DFB erkannt: „Bei früheren Konfliktkonstellationen ist es uns einfacher gefallen zu vermitteln, wie die Stimmungslage bei den Fans ist“, sagt er. „Das ist in der Frage schwieriger, weil die Positionen in den Fanszenen deutlich vielfältiger sind.“

Aus den Vereinen und Verbänden hat es zuletzt einige selbstkritische bis beinahe reumütige Stimmen gegeben, die die Wachstumslogik des Profigeschäfts hinterfragen. Auch deshalb hoffen die aktiven Fans nach wie vor auf grundsätzliche Veränderungen. „Die Frage der Krisenbewältigung ist nur eine temporäre Frage“, sagt Sig Zelt. „Wichtiger ist eigentlich, ob man daraus Lehren zieht und wie es danach weitergeht.“ Er weiß jedoch auch: Wenn Ball und Rubel erst einmal wieder rollen, dann könnte es mit Selbstkritik und Reue des Profifußballs schnell wieder vorbei sein.

Leonard Brandbeck

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