Mehr als Pyrotechnik: Wie Fußball-Ultras in der Coronavirus-Krise an Profil gewinnen
„Wer hätte so was gedacht?“: Mit ihren Hilfsaktionen in der Coronavirus-Krise revidieren die Ultras das negative Bild, das viele von ihnen haben.
Rund einen Monat ist es her, dass Karl-Heinz Rummenigge, der Vorstandschef des FC Bayern München, die Ultras seines Klubs als „hässliche Fratze“ des Vereins betitelte. Teile der aktiven Fanszene der Münchner hatten damals in Hoffenheim fast einen Spielabbruch provoziert, indem sie Dietmar Hopp auf mehreren Plakaten mit dem Wort verunglimpft hatten.
Das Ziel, den Diskurs durch die drastische Wortwahl auf den jahrelangen Ausschluss der Dortmunder Fans in Hoffenheim hinzuweisen, wurde nicht wirklich erreicht.
Ultras zeigen in Coronavirus-Krise, dass sie mehr können
Was auf die Banner, die in der Folge in vielen weiteren deutschen Stadien zu sehen waren, folgte, war ein völlig überhitzter Diskurs. Die Ultras und ihre Kultur wurden von einem Lager als Totengräber der Sportart dargestellt, während die andere Seite die Kritik an den Bossen des deutschen Fußballs weiter zuspitzte.
In Zeiten der Bedrohung durch das Coronavirus unterstreichen die Ultras derzeit bundesweit erneut, dass sie mehr können und für mehr stehen als Fußball. Dass sie mehr sind als „Chaoten“, dass ihnen die sozialen Probleme in ihren Städten oftmals ebenso viel bedeuten wie Sieg und Niederlage ihres Klubs.
Zahlreiche Ultra-Gruppierungen von Düsseldorf bis Plauen und Kiel bis Reutlingen haben mittlerweile Solidaritäts- und Hilfsaktionen ins Leben gerufen, um Menschen zu unterstützen, die durch das Virus besonders gefährdet sind. Sie danken mit Bannern in Städten Ärzten, Krankenschwestern oder Mitarbeitern von Supermärkten und bekunden ihre Solidarität.
„Pflegekräften danken heißt Löhne erhöhen“, heißt es auf einem schwarz-gelben Banner in Dortmund. „Ob im Krankenhaus oder an der Kasse. Was ihr leistet, ist Klasse“, steht auf einem Banner der Ultras von Fortuna Köln. „Ihr seid die Helden unserer Stadt, macht den Virus platt“, schreiben Ultras aus Freiburg. Kurz darauf forderte die örtliche Polizei die Freiburger Fans auf, das Banner zu entfernen.
In Dresden übernahmen die Behörden den Job gleich selbst, da die Aktion nicht mit dem Freistaat Sachsen abgesprochen gewesen sei. Aber auch praktisch packen die Ultras mit an. In zahlreichen Städten bieten sie Einkaufshilfen an. Menschen der Risikogruppen oder sich in Quarantäne befindende Personen können sich bei den Fanszenen melden, sie übernehmen den Gang zum Supermarkt.
In Nürnberg, Hannover, Ingolstadt oder Gelsenkirchen arbeiten die Fans dabei eng mit ihren Klubs zusammen. „Viele Gruppen haben sich zudem mit anderen lokalen Organisationen zusammengetan, um bestmöglich helfen zu können“, sagt Felix Tamsut. Der freie Journalist ist ein Experte für deutsche Fankultur.
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Andere Gruppen, zum Beispiel aus Kiel, Reutlingen, Stuttgart, Wolfsburg oder Dortmund, bieten selbstverwaltet ihre Hilfe an. „Auch bei anderen Hilfsersuchen könnt ihr euch gerne an uns wenden. Selbstverständlich spielt es hierbei keine Rolle, ob die Person unseren FCA unterstützt oder nicht“, schreibt die Fan-Szene des FC Augsburg. Weitere Ultra-Gruppierungen, etwa die von Hansa Rostock, rufen zum Blutspenden auf, damit die regionalen Kliniken für eine „weitere Zuspitzung“ der Krise gewappnet sind.
Die Ultra-Szene in Frankfurt sammelt Sachspenden für die städtische Tafel, um Obdachlosen zu helfen, vereinzelte Gruppen organisieren gemeinsam Spenden für die Krankenhäuser im besonders stark betroffenen Italien. „So viel sollte inzwischen jedem klar sein, unser geliebter Fußball und der Gang ins Stadion sind aktuell absolute Nebensache“, heißt es im Statement der „Ultras Frankfurt 1997“, das auch der Klub selbst auf seinen Social-Media-Kanälen teilte.
„Das zeigt, dass viele der Stereotypen über die Ultragruppen, die in der Mitte der Gesellschaft vorherrschen, oftmals unfair sind“, sagt Tamsut. „Außerdem ist es bezeichnend, dass diese Aktionen erst jetzt eine so große Aufmerksamkeit generieren. Denn dass Ultras sich in ihren Gemeinden und in sozialen Projekten einbringen, ist nichts Neues.“
„Ultras sehen sich als Repräsentanten der Stadt“
Für viele aber ist es das anscheinend immer noch. So stellte der FDP-Mann Christof Rasche im Landtag von Nordrhein-Westfalen die rhetorische Frage: „Fußball-Ultras präsentieren Dankesbanner für Krankenhauspersonal. Wer hätte so was vor einigen Monaten gedacht?“
Dabei kümmern sich die Fanszenen zum Beispiel in der Weihnachtszeit um Essens- und Sachspenden für die lokalen Tafeln. Bei Hertha BSC steht im Winter traditionell die Aktion „Hertha wärmt“ an, in der Kleiderspenden für Wohnungslose gesammelt werden. In Düsseldorf rückten die Ultras 2019 die Aufklärung zum Thema Depression gemeinsam mit mehreren Ärzten und Psychologen in den Mittelpunkt.
Es sind nur wenige Auszüge zahlreicher kreativer karikativer Aktionen, die die Ultras bundesweit über Jahre organisiert haben. „Ich hoffe, dass auch diese Seite der Subkultur nun stärker in der breiten Gesellschaft betrachtet wird“, sagt Tamsut. „Die Ultras sehen sich primär als Repräsentanten der Stadt. Deswegen helfen sie natürlich auch, wenn da angebracht ist.“
Auch in Berlin haben die Ultraszenen von Hertha BSC und dem 1. FC Union bereits ihre Solidarität kundgetan. „Vor eurem Einsatz, eurem Mut, zieht ganz Berlin den Hut“, titelt die „Szene Köpenick“ auf einem Transparent. „Respekt und Anerkennung für das, was ihr leistet. Danke!“, steht auf einem blau-weißen Banner der Fanszene von Hertha BSC.
Welchen Einfluss Aktionen der Ultras auf das Gemeinwohl haben können, zeigte zuletzt im Februar der traditionelle Kalender-Verkauf von „Commando Cannstatt“ in Stuttgart: Der Verkauf beim Heimspiel gegen Erzgebirge Aue brachte rund 15.000 Euro ein, die den Verantwortlichen des Kreisverbandes des Deutschen Roten Kreuzes Stuttgart übergeben wurden und den Kältebussen zu Gute kamen.
Louis Richter