Trainingslager in Südtirol: Ein WM-Kader aus verletzten Stammspielern
Noch nie hatte Bundestrainer Löw mit so vielen angeschlagenen Spielern in der Vorbereitung auf ein großes Turnier zu kämpfen, Vom Tor bis zur Sturmspitze. Jetzt fällt auch noch Lars Bender für die WM in Brasilien aus.
Joachim Löw hat bisweilen glänzende Ideen. Für den aktiven Auftakt ins Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft im Südtiroler Passeiertal hatte der Bundestrainer Tim Meyer mit der Aufgabe betreut, ein paar einstimmende Worte ans kickende Personal zu richten. Die Spieler formten also einen lockeren Kreis auf dem Übungsgeläuf, und Tim Meyer erhob seine Stimme. Nun ist der Herr Meyer nicht irgendwer, der diese Aufgabe in einem Quiz gewonnen hat. Tim Meyer ist der Mannschaftsarzt der Nationalelf. Dass er die Begrüßungsformel an die Spieler richtete, illustrierte ganz hervorragend die derzeitige Lage.
Rund drei Wochen vor dem Beginn der Weltmeisterschaft startet der deutsche Kader mit einer ziemlichen Unwucht in die Mission Titelgewinn. Man könnte auch sagen, die Nationalmannschaft eiert ihrem Traum Brasilien entgegen. Von den 27 Spielern, die Löw in den vorläufigen WM-Kader berufen hat, waren gestern nur 23 anwesend. Nach einer kräfteraubenden Saison und einem harten Pokalfinale sind mehrere Spieler angeschlagen oder gar nicht erst mit angereist. Als da wären Kapitän Philipp Lahm und Torwart Manuel Neuer vom FC Bayern München, die sich derzeit noch auf der anderen Seite der Alpen in ärztlicher Behandlung befinden. Abwesend sind auch Mittelfeldstratege Sami Khedira, der am Samstag mit Real Madrid das Finale der Champions League bestreiten wird, sowie Per Mertesacker vom FC Arsenal. Der allerdings ist Vater geworden. Wie zu hören ist, soll er dies körperlich unbeschadet überstanden haben.
Verletzungen sind keine Kleinigkeiten
Bei den anderen drei Spielern lässt sich das nicht so einfach sagen. „Manuel und Philipp haben heute Untersuchungen“, sagte Löws Assistent Hansi Flick am Donnerstag. Neuer hatte sich im Pokalfinale einen Kapseleinriss des rechten Schultereckgelenks zugezogen und Lahm einen Kapselriss im Sprunggelenk. Sollten die Untersuchungen die erhofften Ergebnisse bringen, würden sie alsbald zur Mannschaft stoßen. Wann sie aber das normale Training aufnehmen können, weiß bisher noch niemand.
Lahm und Neuer sind Stammspieler und als solche fest eingeplant für den deutschen WM-Start am 16. Juni gegen Portugal. Allerdings sind ihre Verletzungen keine Kleinigkeiten. Zudem bleibt fraglich, ob und wie Khedira, der sich vor einem halben Jahr im Länderspiel gegen Italien das Kreuzband gerissen hatte, den finalen Härtetest am Wochenende in Lissabon besteht.
Gesundheitliche Probleme vom Tor bis zur Sturmspitze
Sami Khedira ist die mit Abstand sensibelste Personalie. Von seiner Einsatzfähigkeit und Turniertauglichkeit hängen im hohen Maße weiterführende personelle Überlegungen ab. Etwa die, ob Lahm doch eher im zentralen Mittelfeld spielen muss. Dann würde der Platz rechts in der Abwehrkette vakant werden, was wiederum Einfluss auf die Besetzung der Innenverteidigung hätte. Selbst wenn Khedira seine Position beziehen könnte, bliebe die Frage nach seinem Nebenmann. Hier wird mit Bastian Schweinsteiger geplant, doch der Münchner plagt sich mit einer Entzündung im Knie herum. Gestern konnte der 29-Jährige nicht am Mannschaftstraining teilnehmen, er absolvierte eine individuelle Laufeinheit.
Nimmt man den ewigen Miroslav Klose (fast 36 Jahre alt, 131 Länderspiele) hinzu, der im zurückliegenden halben Jahr wegen zahlreicher Verletzungen nur selten zu Einsätzen für Lazio Rom kam, dann sind alle Mannschaftsteile betroffen von der allgemeinen Unwucht. Sie zieht sich zentral durch die Mannschaft vom Tor bis zur Sturmspitze, weshalb auch schon das Bild vom Achsenbruch die Runde macht.
Am Freitag wurde außerdem bekannt, dass Lars Bender nicht an der Fußball-WM teilnehmen kann. Der Mittelfeldspieler von Bayer Leverkusen muss wegen einer Oberschenkelverletzung auf das Turnier in Brasilien verzichten, und hatte wegen der Blessur bereits das Länderspiel gegen Polen (0:0) am 13. Mai verpasst. Bender wäre im Defensivbereich auf mehreren Positionen einsetzbar gewesen. Bei der EM 2012 war er auch als rechter Verteidiger zum Einsatz gekommen.
Die Realität schlägt die Theorie
Ohne Frage, die momentane Situation ist lästig, mindestens. Zwar gab es vor jedem Turnier, das Löw als Bundestrainer seit 2008 zu verantwortet hat, gesundheitliche Probleme bei einigen Spielern, doch noch nie waren so viele Erste-Elf-Spieler betroffen. „Wir brauchen bei der WM die besten verfügbaren Spieler, nicht die theoretisch besten“, hatte Löw Anfang März gesagt und er schloss seinen kleinen Vortrag mit der Bemerkung: „Bei der Weltmeisterschaft gilt: Die Realität schlägt die Theorie.“
Noch ist nicht WM, aber sie wird sehr bald Realität sein. Theoretisch kann sich bis dahin noch vieles zum Guten wenden. zur Not muss Löw rigoros seine März-Vorgabe umsetzen. Der Bundestrainer ist bei all seinem Grundvertrauen in die Genesung seiner angeschlagenen Spieler auf Nummer sicher gegangen. So hat er Marc-André ter Stegen schon mal in Alarmbereitschaft versetzt. Der Torwart möge sich bereithalten und seinen geplanten Urlaub stornieren. Auch das könnte sich als glänzende Idee erweisen.