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Dirk Nowitzki hat so gut wie alles erreicht, was es im Basketball zu erreichen gibt. Trotzdem spielt jetzt noch einmal für die deutsche Nationalmannschaft bei der EM.
© dpa

Basketball-EM in Berlin: Dirk Nowitzki: Großer Junge, alter Knabe

Dirk Nowitzki ist ein Idol. In Berlin tritt er heute für Deutschland bei der EM an – und spielt zusammen mit Basketballern, die noch Kinder waren, als er in die NBA ging.

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Wenn Dirk Nowitzki den Ball in der Hand hat, ist er ganz bei sich. Die Wurfbewegung hat er millionenfach trainiert, an ihr gefeilt und sie perfektioniert. Nichts ist ihm so vertraut wie sie. Er springt ab, streckt den rechten Arm, das Handgelenk klappt nach vorn, nach einer steilen Flugkurve landet der Ball im Korb, ohne den Ring zu berühren.

Noch einmal. Und noch einmal. Dirk Nowitzki lächelt.

Durch die Inselparkhalle von Hamburg-Wilhelmsburg wummert Musik, die Zuschauer nehmen ihre Plätze ein. Sie sind alle gekommen, um ihn zu sehen. Nowitzki lässt sich von der Musik nicht stören, er pfeift die Melodie mit. Er wärmt sich auf für ein Testspiel gegen Lettland, vor gerade mal 3000 Zuschauern.

Normalerweise spielt Dirk Nowitzki in der nordamerikanischen Profiliga NBA vor mehr als 20 000 Fans. Er hat mit den Dallas Mavericks den Meistertitel der NBA gewonnen und wurde zum besten Spieler der Liga gewählt. Er ist 37 Jahre alt, Multimillionär, seit 17 Jahren Profi, Vater von zwei kleinen Kindern. Er hat es nicht nötig, seinen von mehr als 1400 Profispielen geschundenen Körper durch die Inselparkhalle zu schleppen.

Er ist trotzdem da, wirft und trifft und pfeift und grinst und wirft und trifft.

Der Anlass für Nowitzkis Aufenthalt in Deutschland ist klar, am heutigen Samstag startet er mit der deutschen Nationalmannschaft in der Arena am Ostbahnhof in die Basketball-Europameisterschaft. Es ist bereits Nowitzkis siebtes EM-Turnier – aber das erste im eigenen Land. Deswegen ist er nach Deutschland gekommen, hat schon vor Wochen mit dem Training begonnen. Die Spiele der deutschen Mannschaft sind ausverkauft.

Zwei Tage vor dem Turnierstart hat der Deutsche Basketball-Bund (DBB) zur Pressekonferenz geladen. Auf dem Podium sitzen der Bundestrainer und die Nationalspieler Dennis Schröder und Heiko Schaffartzik. Dirk Nowitzki sitzt in der Mitte, wie üblich. Die meisten Fragen richten sich an ihn. „Ich hatte nie die Chance, eine Heim-EM zu spielen“, sagt er. Mit 37 Jahren noch einmal dabei sein zu können, sei „eine Riesensache, ein Riesenerlebnis“.

Nowitzki wirkt erschöpft, am Vormittag hat die Mannschaft hart trainiert. Gleichzeitig merkt man ihm an, wie sehr er sich freut, dass es jetzt endlich losgeht.

Dirk Nowitzki hat es nie genossen, ein Star zu sein. Doch seine einzigartige Art, Basketball zu spielen, hat ihn dazu gemacht. Als der 2,13 Meter große Nowitzki mit Basketball beginnt, sind Spieler seiner Größe auf eine einzige Rolle festgelegt. Sie bekommen den Ball in Korbnähe, wühlen sich durch, punkten aus der Nahdistanz. Die Trainer wollen nicht, dass große Spieler dribbeln, aus der Ferne werfen, kreativ sind. Nowitzki hatte das Glück, dass der ehemalige Nationalspieler Holger Geschwindner früh entdeckte, dass Nowitzki zu mehr fähig ist. Geschwindner trainierte jeden Tag mit dem schlaksigen Teenager, ließ ihn im Handstand durch die Halle laufen, Spagat üben. Er brachte ihm bei, Basketball als eine Art Tanz zu begreifen. Er wollte aus Nowitzki einen der weltbesten Spieler machen. Der Plan ging auf. 1998 wechselte er in die NBA, 2011 gewann er mit Dallas den Titel.

2011 erfüllte sich Nowitzki den großen Traum und wurde NBA-Champion

Mit Geschwindner entwickelte Nowitzki einen Wurf, der in keinem Basketball-Lehrbuch steht: Er dreht sich dabei von seinem Gegenspieler weg, springt mit einem Bein ab und lässt den Ball im Rückwärtsfallen im hohen Bogen fliegen. Eine artistische und koordinative Meisterleistung für einen Menschen seiner Körpergröße. Ein Wurf, der auch für die besten Verteidiger nicht zu stoppen ist.

Spätestens seit der NBA-Meisterschaft suchen Basketball-Scouts auf der ganzen Welt nach dieser Mischung aus Körpergröße und Talent, nach dem nächsten Dirk Nowitzki. Bislang haben sie ihn nicht gefunden.

Für den deutschen Basketball ist Dirk Nowitzki ein Glücksfall. Wenn der Superstar beim Nationalteam dabei ist, übertragen plötzlich ARD und ZDF die Spiele, die Zahl der Reporter verdreifacht sich. „Wenn Dirk dabei ist, geht es immer zuerst um ihn“, sagt Ingo Weiss, der Präsident des Basketball-Bunds. „Das wissen wir.“ Auf dem Feld übernimmt Nowitzki gerne Verantwortung, aber die Hauptrolle ist ihm auch nach all den Jahren im Nationalteam immer noch ein bisschen unangenehm. Vor der EM wird er gefragt, was seine Rolle im unerfahrenen deutschen Team sei. „Hier und da einen Wurf reinschießen, den Jungs mit meiner Erfahrung helfen“, sagt er fast schläfrig. „Und auf der Bank anfeuern. Das war’s eigentlich.“

Im Testspiel gegen Lettland fliegt der deutsche Spieler Tibor Pleiß spektakulär zum Korb, wuchtet den Ball per Dunking hinein, Nowitzki springt begeistert von der Ersatzbank. „Wow! Wow! Wow!“, ruft er immer wieder, reißt seinen langen rechten Arm nach oben und bewegt seine Hand auf und ab – als stopfe er wie sein Teamkollege Pleiß den Ball immer wieder in einen Korb.

Seine Mitspieler lieben ihn dafür, dass er trotz aller Erfolge einer von ihnen geblieben ist. Dass er sich bei den Olympischen Spielen 2008 auf dem Hotelzimmer die olympischen Ringe ins Haar rasieren lässt. Dass er im Trainingslager nicht davor zurückschreckt, nackt um die Turnhalle zu rennen, wenn er einen Wurfwettkampf verloren hat. Dass er immer der große Junge geblieben ist, dem sein Sport und seine Mannschaft wichtiger sind als alles andere.

Mit vielen der alten Kollegen aus der Nationalmannschaft, mit denen er 2002 WM-Bronze und 2005 EM-Silber gewonnen hat, verbindet ihn eine Freundschaft. Seine Mitspieler zahlen Nowitzkis Treue mit ihrer Diskretion zurück: Keiner der Nationalspieler von damals hat sich jemals abfällig oder auch nur kritisch über Nowitzki geäußert, niemand plaudert Privates aus, alle beschützen ihren Star.

Die deutsche Spieler-Generation, mit der Dirk Nowitzki aufgewachsen und erfolgreich geworden ist, hat sich längst in den Ruhestand verabschiedet. In diesem Sommer spielt er mit Basketballern zusammen, die kleine Kinder waren, als er bereits in der NBA gespielt hat. „Ich bin so ein bisschen der Opa im Team“, sagt Dirk Nowitzki. „Aber ich verhalte mich meistens ja nicht wie 37, ich bin ja ein lockerer Typ.“

In diesem Sommer werden viele Nationalspieler mit dem Idol ihrer Kindheit auf dem Feld stehen, viele seiner Mitspieler treffen Nowitzki zum ersten Mal. Seit seinem letzten Sommer mit der Nationalmannschaft sind vier Jahre vergangen. Man merkt ihm mittlerweile sein Alter an – die Erwartungen in Deutschland sind aber dieselben geblieben.

Mit Dennis Schröder hat er bei der EM einen talentierten Jungstar an seiner Seite

Im Test gegen Lettland spielt das deutsche Team Nowitzki in der Anfangsphase nach einer schnellen Passkombination frei, der Star setzt zu seinem ersten Wurf an, ein Raunen geht durch das Publikum. Aber aus dem erwartungsvollen „Ahhhh“ wird schnell ein enttäuschtes „Uhhhh“, der Wurf geht vorbei. In den Vorbereitungsspielen für die EM hat Nowitzki nicht mehr so häufig wie früher getroffen. In einem Testspiel gegen die Türkei erzielte er nur einen einzigen Zähler und damit so wenige Punkte wie seit seinem Debüt für Deutschland im Jahr 1998 nicht mehr. „Ich bin nicht mehr so drauf wie vor zehn Jahren, das ist mir schon klar“, sagt Nowitzki. Er gibt zu, in manchen Momenten der Vorbereitungsspiele sei „ein bisschen Frustration“ dabei gewesen.

Dirk Nowitzkis Bewegungen sind langsamer geworden. Die schnellen Richtungswechsel, die noch nie seine Stärke waren, fallen ihm jetzt noch schwerer. Im Angriff ist er immer noch ein Könner, in der Verteidigung aber stellt er inzwischen ein Risiko dar, besonders gegen jüngere Gegenspieler. Das Problem ist, dass Bundestrainer Chris Fleming seinen Star nicht schonen kann. Auf Nowitzkis Position sind vier Spieler verletzt ausgefallen, wieder einmal wird Nowitzki weniger Unterstützung bekommen, als ihm lieb ist. Früher hatte er im Nationalteam immerhin eine Art Bodyguard an seiner Seite. Der 2,08 Meter große und 120 Kilogramm schwere Stephen Arigbabu war eigentlich nur im Team, um allen Gegnern zu signalisieren: Wenn ihr Dirk weh tut, tue ich euch weh. Also lasst es bleiben.

Als größte deutsche Hoffnung neben Nowitzki gilt heute Dennis Schröder. Der Aufbauspieler ist 21 Jahre alt – also 16 Jahre jünger als Nowitzki – und spielt ebenfalls in der NBA. Der Sohn einer gambischen Mutter und eines deutschen Vaters hat eine starke Saison bei den Atlanta Hawks gespielt, er soll das deutsche Spiel lenken. In den zurückliegenden Testspielen bekam Schröder nun meist in den entscheidenden Situationen den Ball und nicht mehr Nowitzki. Schröder ist ein ganz anderer Spielertyp, er ist nur 1,85 Meter, wendig, dribbelstark, unglaublich schnell. Er kleidet sich abgesehen von seinen Brillantohrringen gerne ganz in Schwarz und genießt es, große Aufritte zu haben. Der blonde Streifen in seinem schwarzen Haar ist stets akkurat gefärbt und gestutzt, seine Oberarme flächendeckend tätowiert. Meist begleitet ihn eine Entourage von Freunden, die er „Flexgang“ nennt. So heißt auch seine Modemarke.

Dennis Schröder ist so ziemlich das Gegenteil seines großen Vorbilds. Trotzdem schreiben viele Zeitungen in Ermangelung einer anderen Referenzgröße über ihn, er sei der neue Dirk Nowitzki.

Im Gegensatz zu Schröder haben Äußerlichkeiten Nowitzki nie interessiert. Er hat schon mit kurz geschorenen Haaren gespielt, mit Stirnband, langer Mähne und mit Vollbart. Er hat keine Tätowierungen und trägt keine glitzernden Ringe. Er hat auf viel Geld verzichtet, damit sein NBA-Team bessere Mitspieler verpflichten konnte. Normalerweise versucht jeder NBA-Profi, das Maximum für sich herauszuholen, viele Mannschaften sind an Neid und Missgunst zwischen den Millionären kaputtgegangen.

Dirk Nowitzki hat sich in den unzähligen Trainingseinheiten und Spielen nicht für das Geld gequält, auch nicht für die Kameras oder für das Publikum. Nach einem seiner größten Triumphe, dem NBA-Titel 2011 rennt er weinend vom Feld und versteckt sich. „Ich musste einfach weg“, sagt er später über seine Tränen nach der Meisterschaft. „Ich habe mich in der Kabine auf den Boden gelegt und geweint. Wenn man so viel Arbeit in eine Sache steckt und dann endlich belohnt wird – das ist einfach überwältigend.“ In diesem Augenblick sind auch die Enttäuschungen vergessen, die Dirk Nowitzki durchlebt hat: 2006 versagen ihm in der NBA-Finalserie die Nerven, Dallas verliert den bereits sicher geglaubten Titel. Im Jahr darauf wird Nowitzki zum Wertvollsten Spieler der NBA gewählt, scheidet mit Dallas aber blamabel in der ersten Play-off-Runde aus. Doch die Finalserie 2011 spielt Nowitzki trotz einer gerissenen Sehne im Finger überragend, ein entscheidendes Spiel gewinnt er trotz Fieber – und holt schließlich den Titel.

Eine seiner schönsten Erinnerungen, das hat Nowitzki immer wieder erzählt, ist jene, als er bei der Eröffnungsfeier von Olympia 2008 die deutsche Fahne ins Stadion von Peking trug. Als die anderen deutschen Sportler – die Turner, Schwimmer, Hockeyspieler und Bogenschützen – in den Katakomben „Wir woll’n die Fahne sehen“ riefen. Da sei ihm ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Diesen Moment will Dirk Nowitzki noch einmal erleben. Bei der EM kann sich das deutsche Team für Olympia 2016 in Rio qualifizieren. Die Chancen dafür sind nicht besonders gut, die Konkurrenz ist stark und Nowitzki kann ein Turnier nicht mehr so dominieren wie früher. Trotzdem vertrauen ihm seine Mitspieler. Alle sind sich sicher: Wenn es erst einmal losgeht, wird er treffen.

Und er wird lächeln, wenn er heute mit dem Ball in der Hand das Spielfeld betritt.

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