Eishockey in Tschechien: Die Seele eines ganzes Landes
Tschechien und der Eishockey-Ernst: während der Weltmeisterschaft leiden die Menschen im Land mit ihren Idolen. Dabei hat die Sportart auch eine politische Komponente.
Sonntagmittag auf dem Wenzelsplatz. Die Touristen im Zentrum von Prag haben es schwer, sich durchzuschlängeln. Gerade ist der Prag-Marathon vorbei und seine Ausläufer kreuzen sich mit den Anhängern einer anderen Sportart. Auf einer Großleinwand läuft die Eishockey-Weltmeisterschaft. Gerade ein unspektakuläres Vorrundenspiel aus Ostrava zwischen Russland und Slowenien. Doch vor der Leinwand kleben tausende Menschen, fiebern zwischen Bier- und Schinkenbuden mit – obwohl die meisten von ihnen nicht Anhänger der Teams auf dem Bildschirm sind. Sie tragen Trikots der tschechischen Mannschaft, vorwiegend mit der Nummer 68 – und sie diskutieren, brüllen, streiten. Über jede Schiedsrichterentscheidung, über jeden Angriff.
Eishockey in Tschechien ist bitterer Ernst. Weil die Sportart im Lande viel gespielt wird. Fast jeder hat zumindest als Kind den Schläger geschwungen, die Anzahl der in Vereinen organisierten Spieler ist sechsstellig – das ist viel bei zehn Millionen Einwohnern. Aber dieser Sport hat auch eine politische Komponente, seit jener Eishockey-WM 1969 in Schweden. Ein knappes Jahr nach der Auflehnung gegen die sowjetischen Besetzer, dem Prager Frühling, schlug die damalige Tschechoslowakei die UdSSR gleich zwei Mal. Zunächst 2:0. Und dann 4:3 am 28. März: In der Halle in Stockholm wurden sie als Helden gefeiert – der spätere Weltmeister Russland dagegen gnadenlos ausgepfiffen. Die russische Delegation war empört ob der Sympathiekundgebung für die Tschechen, Trainer Anatolij Tarasow sagte: „Sie trampelten auf unseren Nerven.“ In Prag wurde nach dem Sieg die ganze Nacht gefeiert, am Morgen waren Schaufensterscheiben mit dem Ergebnis bemalt.
Zum Spiel Deutschland gegen Frankreich kommen 15 000 Zuschauer
4:3 – diese Zahlenkombination steht für einen der größten Erfolge in der tschechischen Sportgeschichte. Petr Briza, 50 Jahre alt, hat das Spiel noch nicht bewusst mitbekommen. Sein erstes Eishockeywunder erlebt er 1972 in Prag. Sein Land wird Weltmeister. „Damals war ich sieben und habe nach einem 3:2 der Tschechoslowakei gegen die Russen vor Begeisterung geschrieen“, sagt Briza, als Profi einst auch beim EV Landshut. 1992 stand er dann selbst in Tschechien im Tor seiner Nationalmannschaft. „Es sollte der Traum eines jeden Kindes sein, für unsere Nationalmannschaft zu spielen“, sagt Briza. Das kann natürlich nicht jeder verwirklichen, deshalb schauen die meisten zu. Schon am zweiten Tag der WM, am Sonnabend, verkündete Briza als Organisationschef des Prager WM-Komitees, das 80 Prozent aller Eintrittskarten, an die 600 000 Tickets, verkauft sind.
Und so kommt es, dass an einem Nachmittag 15 000 Zuschauer bei einem Spiel zwischen Deutschland und Frankreich zuschauen. Wenn die Tschechen spielen, gibt es schließlich nicht genug Tickets, gut 17 000 Plätze hat die Arena in Prag. Auf dem Schwarzmarkt bezahlen Fans für das Spiel gegen Kanada am Montag über 200 Euro für eine Karte. Doch in der Welthauptstadt der Melancholie herrscht später eine finstere Stille. Immer, wenn die Kanadier ein Tor gegen den Gastgeber schießen, verstummen die Fans in der Halle. Und in den Straßen Prags, in denen jede Gaststätte Eishockey zeigt. Am Ende werden es sechs Treffer in die tschechische Sportseele, Kanada siegt 6:3. Die sportliche Gegenwart im Eishockey ist eher ernüchternd, die Tschechen sind nicht mehr absolute Weltspitze. Ihre Hoffnungen bei der aktuellen WM ruhen vor allem auf Jaromir Jagr. Der ist schon 43 Jahre alt. Aber der Mann aus Kladno wird abgöttisch verehrt – obwohl er seine Dollarmillionen fernab der Heimat in der nordamerikanischen NHL verdient.
Für die deutschen Eishockey-Fans ist Prag ein etwas anderes Erlebnis
Jagr–Trikots mit der 68, die Nummer trägt Tschechiens Eishockey-Idol in Erinnerung an den Prager Frühling, in dem sein Großvater sein Leben ließ, sind während der WM beliebtes Werbeobjekt in den Schaufenstern. In Fernsehspots wird dieser Tage alles mit Eishockey beworben – von Benzin bis Burger. Das erstaunt auch Gäste aus dem Land, dass sich qua Selbstverständnis als Eishockey-Erfindernation sieht. Kanadas Cheftrainer Todd McLellan sagt: „Die Halle in Prag ist voll von einer unglaublichen Energie.“ So viel Begeisterung habe er selten erlebt.
Auch für die deutschen Eishockey-Fans ist Prag ein etwas anderes Erlebnis: Wenn die Anhänger mit ihren Klubtrikots vom ETC Crimmitschau oder den Schwenninger Wild Wings unterwegs sind, dann wirkt das wie ein folkloristischer Ausflug. Sie beklatschen die deutsche Mannschaft auch noch, als sie beim 0:10 gegen Kanada untergeht. Sie kommen ja aus einem Land, in dem Eishockey hinter dem Fußball unter ferner liefen läuft. Tschechiens Fans würden die deutschen Fans nicht verstehen, sagt ein Volunteer aus dem WM-Medienbüro: „Bei uns trägt jeder die Nationalfarben, und die Menschen kommen nicht, um das Nationalteam verlieren zu sehen.“
Zweimal war das aber bei den Tschechen bei der laufenden WM in drei Spielen schon der Fall. Ihren Frust nehmen sie aber mit heim. Im Eishockey laufe so eine WM „absolut friedlich“ ab, sagt OK-Chef Briza. „Die Fans aus verschiedenen Ländern feuern ihre Mannschaften zwar an, aber nach dem Spiel trinken sie dann doch gemeinsam ein Bier.“ Kann ja auch Spaß machen, im Frühling von Prag.
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