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Bei der Leichtathletik-WM bleiben im Khalifa International Stadium viele Plätze leer.
© AFP/Giuseppe Cacace

Leichtathletik-WM 2019 in Katar: Die Lehre aus der großen Leere

Leere Ränge und hohe Temperaturen trüben die Leichtathletik-WM in Katar. Wie kam's dazu und was bedeutet das für die Fußball-WM 2022? Die wichtigsten Antworten.

Die Popularität der Leichtathletik schwindet schon seit Längerem. Das Dopingproblem macht vielen Disziplinen zu schaffen, auch gelingt es zum Beispiel dem Kugelstoßen oder Diskuswerfen kaum noch, die Jugend von ihren Smartphones wegzulocken. Und die größten Stars der Szene wie die russische Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa oder der jamaikanische Sprinter Usain Bolt haben ihre Karrieren beendet. In dieser Situation könnte die aktuelle Weltmeisterschaft in Doha eine gute Gelegenheit sein, um positive Schlagzeilen zu schreiben und neue Helden zu schaffen. Es ist bisher anders gekommen.

Welche Kritik gibt es an der Weltmeisterschaft in Doha?

Die wichtigsten Kritikpunkte lauten: Miese Stimmung, leere Ränge und die große Hitze. Der Marathon der Frauen startete um Mitternacht, dennoch herrschten 32,7 Grad Celsius und 73,3 Prozent Luftfeuchtigkeit. Nur 40 von 68 Läuferinnen kamen ins Ziel. Die Geher-Wettbewerbe hatten eine ähnlich hohe Ausfallquote.

Als lebensgefährlich und inakzeptabel bezeichnete Äthiopiens früherer Wunderläufer Haile Gebrselassie die extremen Bedingungen. „Gott bewahre, aber Menschen, die bei solchen Wetterbedingungen laufen, hätten sterben können“, sagte er.

Es sei ein Fehler, die WM bei solch heißem Wetter in Doha auszutragen. Seiner Ansicht nach hätte man auf die Marathonrennen ganz verzichten müssen. Unter diesem Blickwinkel klingt das für die WM vom Weltverband IAAF ausgegebene Motto nur noch zynisch: Beat the Heat. Im Khalifa International Stadion sind die Bedingungen besser, weil es im Innenraum auf 25 Grad heruntergekühlt wird. Dort gibt es ein anderes Problem.

Das Stadion ist durch Abdeckungen auf den Oberrängen auf 20000 Plätze verkleinert worden, dennoch interessierten sich zu Beginn der Wettkämpfe kaum Zuschauer für die Wettbewerbe. Das 100-Meter-Finale der Frauen sahen geschätzt nur 2000 Besucher. Selbst beim Rennen der Männer über 100 Meter, der olympischen Königsdisziplin, war das Stadion leer. Dennoch sprachen die Organisatoren von einer Auslastung an den ersten Tagen von 70 Prozent und 67 Prozent. Inzwischen füllen sie einige der leeren Plätze mit Soldaten auf.

Warum ist die WM überhaupt nach Katar vergeben worden?

Warum sind bereits die Weltmeisterschaften im Kurzbahn-Schwimmen, Radsport und Handball nach Doha gegangen? Warum findet dort 2022 die Fußball-WM statt? Und warum zog damals der englische Fußball-Verband FA den Kürzeren gegen den Wüstenstaat? Die Antwort ist immer die gleiche: Weil Verbände und Funktionäre mit der Vergabe viel Geld verdienen können, möglicherweise auch illegales Geld.

Dem ehemaligen Präsidenten des Leichtathletik-Weltverbandes (IAAF), Lamine Diack, der maßgeblich an der Vergabe nach Katar beteiligt gewesen sein soll, wird im kommenden Jahr der Prozess gemacht. Die Vorwürfe lauten: Korruption und Geldwäsche. „Das Einzige, was die haben, ist Geld“, schimpfte Spaniens Verbandschef José María Odriozola bereits kurz nach Bekanntgabe des Austragungsorts der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2019. Kugelstoßerin Christina Schwanitz sagte der ARD auf die Frage, warum die WM in der Wüste stattfinde: „Weil die Reibung zwischen Daumen und Zeigefinger gestimmt hat.“

Warum sind Sportveranstaltungen für Katar so wichtig?

Die Herrscherfamilie will Ruhm und Ansehen des kleinen Landes weltweit mehren. Als Hamad bin Chalifa al Thani – Vater von 27 Kindern und bis 2013 Staatsoberhaupt – nach 18 Jahren an seinen Ältesten übergab, an Thronfolger Tamim bin Hamad al Thani, betraute er ihn mit einer Vision. Er nannte sie: „Pillars of Qatar“, die Säulen Katars.

Der Wüstenstaat will sich eines vielleicht gar nicht so fernen Tages um die Ausrichtung Olympischer Sommerspiele bewerben. Unweit des Khalifa-Stadions steht bereits ein 300 Meter hoher Turm in Form einer Fackel, der die Richtung weist. Die Leichtathletik-WM ist nach Radsport, Schwimmen und Handball nur ein weiterer Probelauf für dieses nächste große Ziel.

Warum sind die Stadien so leer?

Die Organisatoren erklären das fehlende Interesse mit dem an die internationale Fernsehübertragung angepassten Zeitplan: Die 100-Meter-Finalrennen seien zu spät für die einheimische Bevölkerung ausgetragen worden. Hinzu aber kommt, dass Sport in der katarischen Gesellschaft nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Viele Einheimische scheren sich nicht um Hürdenlauf, Kugelstoßen oder Weitsprung, sofern ihnen diese Disziplinen überhaupt geläufig sind. Das Phänomen ist nicht neu: Bei der Handball-WM 2015 bestritt der Gastgeber seine ersten drei Spiele vor ein paar hundert Zuschauern, teilweise saßen mehr Journalisten als Besucher in den Hallen.

Zur K.-o.-Phase war die große Arena mit einer Kapazität von 15.000 Plätzen plötzlich voll: Wie sich später herausstellte, tummelten sich auf den Rängen fast ausschließlich Gastarbeiter, die als Claqueure angeheuert worden waren. Katars Handball-Verband ließ sogar 60 schlachterprobte Handball-Fans vom spanischen Klub Ciudad Real einfliegen, die Stimmung machen sollten.

Kost und Logis im Fünf-Sterne-Hotel frei. Bei dieser Handball-Weltmeisterschaft ereignete noch eine kuriose Szene. Ein Mitglied des Organisationskomitees gab internationalen Journalisten ein Interview und referierte über einen „Handballboom“, den es im Land gebe und darüber, wie großartig doch alles laufe. Was er nicht merkte: Über seinem Kopf hing ein Fernseher –und im größten Sportkanal des Landes folgte auf Falkenjagd ein Kamelrennen. Womit die populärsten Sportarten im Land benannt sind.

Wie reagiert der Weltverband der Leichtathletik auf die Kritik?

Der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes ist trotz heftiger Kritik mit der Veranstaltung in Doha zufrieden. „Ich kann mich nicht an eine Weltmeisterschaft erinnern, die auf diesem Niveau war“, sagte Sebastian Coe am Mittwoch. Er meint damit allerdings vor allem die Tatsache, dass an den ersten fünf Wettkampftagen Athleten aus 28 Ländern Medaillen gewonnen hätten. „Es war noch nie so schwer, eine Medaille zu holen“, sagte der IAAF-Präsident.

Die Kritik würden nach seiner Ansicht viele Athleten nicht teilen. „Sie freuen sich sehr, hier zu sein“, sagte der ehemalige Weltklasseläufer. Immerhin gibt er zu: „Ja, wir hätten mehr Zuschauer im Stadion haben können, aber es gibt ziemlich verständliche Gründe, warum dies eine Herausforderung war.“ Coe bezeichnete die Hitze zwar als Herausforderung, lobte aber die „hervorragende medizinische Versorgung“ am Streckenrand. Nach der Vergabe an Katar könnte er sich auch eine Weltmeisterschaft in Jamaika oder Kenia vorstellen. „Ich hoffe, dass das eines Tages möglich ist“, sagte Coe.

Der ehemalige Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes sieht das anders. „Katar ist eine Warnung, dass es so nicht weitergehen darf“, sagte Clemens Prokop. „Meine Kritik, dass die Interessen der Athleten nicht berücksichtigt werden, trifft zu“, sagte er. „Früher war es so, dass die Funktionäre geherrscht und die Athleten gehorcht haben.“

Dies habe sich inzwischen verändert: „Athleten vertreten inzwischen den Standpunkt, dass sie die wichtigsten Personen der Sportveranstaltungen sind.“ Zukünftige Sportgroßveranstaltungen müssten nach Kriterien vergeben werden, die sich an den Interessen der Athleten orientieren.

„Ich kann es so ausdrücklich sagen: Die Klimabedingungen kann man nicht außen vor lassen“, sagte Prokop. Notfalls müsse man überlegen, wenn eine WM-Stadt in einer heißen Klimazone liege, Marathon und Gehen in ein anderes Land zu verlegen, „in dem die Athleten bessere Bedingungen“ hätten.

Was bedeutet das für die Fußball-WM 2022 in Katar?

Selbst mit viel Fantasie kann man sich noch nicht vorstellen, wie sich eine Fußball-Weltmeisterschaft im Winter 2022 anfühlen wird. Dagmar Freitag (SPD), die Sportausschussvorsitzende des Bundestages, sagt: „Möglicherweise wird es sogar einfacher als mit der Leichtathletik-WM, weil Fußball eine Sportart ist, die, was die Begeisterung angeht, weltweit an der Spitze steht. Auch in Katar.“

Zumal Katar in diesem Jahr Asien-Meister geworden ist. Während der Fußball-WM soll in den geplanten Fan-Zonen auch Bier ausgeschenkt werden, was in dem muslimisch geprägten Land normalerweise strikt untersagt ist. Das ist zumindest zurzeit ein teures Vergnügen: Ein Glas Bier kostet 55 Riyal (rund 13,40 Euro).

„Wir sind sehr zuversichtlich, dass die anstehenden Fifa-Wettbewerbe in Katar erfolgreich verlaufen werden“, sagt Helmut Spahn, der deutsche Sicherheitschef des Weltverbandes, der fünf Jahre in Katar gelebt hat. Die Durchschnittstemperaturen im November und Dezember lägen zwischen 15 und 24 Grad Celsius und böten „für alle Spieler und Fans optimale Bedingungen“. Fifa-Präsident Gianni Infantino glaubt sogar, es seien alle Zutaten vorhanden, um die WM 2022 zu einem „unvergesslichen Ereignis“ zu machen. Das kann man freilich so oder so verstehen. (mit dpa)

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