Serie Materialschlacht, Teil 6: Die Anzüge der Skispringer: Spagat auf der Schanze
Im Skispringen wird nichts dem Zufall überlassen, auch nicht beim Anzug. Schon ein halber Zentimeter zu viel Stoff kann die Disqualifikation bedeuten.
Im Sport kommt es nicht immer nur auf den Athleten an. In unserer Serie „Materialschlacht“ beschreiben wir, wie viel durch Technik und Material in verschiedenen Sportarten bestimmt wird.
In den kommenden zehn Tagen werden Christian Winkler und seine Kollegen wieder viele Nachtschichten einschieben müssen. Winkler ist Co-Trainer der deutschen Skispringer und die Nordische Ski-WM im österreichischen Seefeld, die an diesem Donnerstag beginnt, ist nun mal einer der Höhepunkte der Saison. Das Programm hat es in sich, die Frauen und Männer absolvieren insgesamt sechs Wettbewerbe. Und vor jedem Wettkampftag liegen lange Nachtschichten.
Denn Winkler und seine Mitstreiter müssen sicher gehen, dass ihre Athleten mit perfekt sitzenden Anzügen auf die Schanze gehen. Ein halber Zentimeter zu viel Stoff kann die Disqualifikation bedeuten. Ein halber Zentimeter zu wenig kann die entscheidenden Meter im Flug kosten. „Beim Skispringen betrachten wir den Anzug eher wie ein Sportgerät“, sagt Winkler. „Und da versuchen wir, jedes Wochenende das Optimum zu treffen.“
Im Skispringen wird nichts, aber auch gar nichts, dem Zufall überlassen. Das Gewicht der Springer wird kontrolliert, jeder Zentimeter ihres Körpers regelmäßig vermessen. Ski, Bindungen, Schuhe, Helme, Handschuhe – ja sogar die Unterwäsche muss bestimmte Vorgaben erfüllen. Den mit Abstand größten Absatz in den Regularien des Internationalen Skiverbandes (Fis) nehmen dabei die Vorgaben für den Anzug ein.
Dieser muss aus fünf Lagen bestehen: Einem vom Gemisch her gleichen, neoprenartigen Ober- und Unterstoff, dazwischen eine Schaumstoffwabe und eine perforierte Gummilaminierung. Das Ganze muss mindestens vier, maximal aber sechs Millimeter dick sein und nach einem vorgegebenen Muster gefertigt werden. Dabei sind Länge, Breite und Position des Reißverschlusses noch das einfachste Detail. Bis ins Kleinste sind erlaubte Luftdurchlässigkeit, Materialzusammensetzung und Elastizität festgeschrieben.
Skispringen ist ein Sport für penibel arbeitende Tüftler
Skispringen ist ein Sport für penibel arbeitende Tüftler – und genau so einer ist Christian Winkler. Mit den Sportlern tüftelt der 49-Jährige an der Schanze am optimalen Zeitpunkt und der optimalen Position für den Absprung, mit der Material-Abteilung an der optimalen Unterstützung durch den Anzug. „Der Anzug hat die Aufgabe, den Auftrieb und den Gleitwinkel zu verbessern. Im Flug ist er elementar wichtig, genauso wie der Ski“, erklärt Winkler. Deshalb sind die Vorschriften so streng. Über den Anzug kann der Springer einen enormen Weitenvorteil bekommen.
Bis vor einigen Jahren wurde das noch deutlich mehr genutzt als heute. Man erinnere sich an die Bilder aus den Zeiten von Martin Schmitt und Sven Hannawald: Sehr dünne Männer in sehr weiten, flatterigen Gummianzügen. Damals durfte der Anzug noch sechs Zentimeter weiter sein als das Körpermaß. Dadurch hatte der Athlet mehr Fläche, die er in den Wind legen konnte, und entsprechend mehr Auftrieb. 2010 wurde diese Toleranz stark eingeschränkt, einen Sommer lang lag sie sogar bei null – soll heißen, die Anzüge lagen extrem eng am Körper an. „Das hat aber gar nicht funktioniert“, erzählt Winkler, „deshalb sind es jetzt seit einigen Jahren drei Zentimeter, also etwa ein Finger breit. Außer direkt über den Hüftknochen – da wird ein nicht dehnbares Band eingenäht, das muss genau den Körperumfang haben.“
Die neuralgischen Stellen, die auch bei der Kontrolle die größte Rolle spielen, sind die Achsel/Arme und der Schritt. In diesen Bereichen ist es besonders sinnvoll, sich Fläche zu verschaffen. „Wir sprechen dann gern von sogenannten Wingsuits, wenn einer offensichtlich drüber ist“, sagt Winkler.
Tatsächlich werden regelmäßig Skispringerinnen und -Springer wegen ihrer Anzüge disqualifiziert. Oft steckt nicht einmal eine Betrugsabsicht dahinter, manchmal passt den Kontrolleuren auch nur eine Naht nicht. „Es ist ein Spagat“, gibt Winkler zu. „Sowohl bei der Oberflächenspannung als auch bei der Schnitttechnik müssen wir immer versuchen, innerhalb der Regularien das Maximum rauszuholen.“ Deshalb wird ein Athlet auch vor jedem Wettkampf vermessen und der Schnitt angepasst – in der Regel in einer Nachtschicht. Das Material wird angepasst an Schanzengröße und Windbedingungen.
Die Anzüge sind nicht langlebig - und kosten viel
Die Suche nach der optimalen Materialzusammensetzung und Passform wird dadurch erschwert, dass der Anzug in zwei unterschiedlichen Positionen funktionieren muss: Der Athlet muss darin nicht nur gut durch die Luft gleiten, sondern auch gut hocken können. Schließlich ist der Anlauf ein elementarer Bestandteil des Sprunges. Winkler erklärt es so: „Das ist wie bei Papier: Je mehr Lagen man übereinanderlegt, desto höher ist die Knickfestigkeit. Je straffer der Anzug, desto besser funktioniert er in der Luft, weil er nicht so flattert. Andererseits kommt man mit einem straffen Anzug aber nicht in die Hocke.“ Und so gibt er zu: „Das sind so viele Details, die treiben einen in ihrer Kniffligkeit schon fast in den Wahnsinn.“
Und mit jeder Anpassung im Regelwerk wird es kniffeliger. Den großen, finanzstarken Verbänden, zu denen auch der Deutsche Skiverband (DSV) gehört, gelingt die Anpassung in der Regel ganz gut. Sie arbeiten mit Instituten zusammen, haben Experten in den eigenen Reihen. Wenn ein Verband in einer Saison besonders nah dran ist am optimalen Anzug, merke man das vor allem bei Teamwettbewerben, sagt Winkler – und vergisst nicht zu erwähnen, dass die Deutschen in diesen Wettbewerben auch in dieser Saison wieder gut dabei sind.
Diese Wettbewerbsfähigkeit hat ihren Preis, zumal die Anzüge nicht sonderlich langlebig sind. „Weltcupspringer haben 38 Wettkämpfe und brauchen bis zu 25 Anzüge“, erzählt der Experte. „Durch das weiche, schaumhaltige Material leiern die Anzüge aus, verlieren Passform und Stand, und wenn man dann zu viel daran rumarbeiten muss, geht der positive Effekt verloren. Deshalb ist der Verschleiß immens groß.“ Winkler spricht von einer hohen fünfstelligen Summe in der Saison, jedes Jahr werde es etwa 20 Prozent teurer.
Die norwegischen Skispringer haben es vor ein paar Jahren auf den Punkt gebracht: Sie verglichen ihre Anzüge mit Formel-1-Autos. Und sowohl für Skianzüge als auch für Rennwagen gilt laut Winkler: „Letztendlich hängt dann doch alles von dem Typen ab, der drin steckt.“
Bisher erschienen: „Kufen beim Rodeln“, „Alpine Ski“, „Das Gewehr beim Biathlon“, „Schoner und Schlittschuhe beim Eishockeytorwart“ und "Passgenaue Bobs".
Catharina Hopp