Radkolumne „Abgefahren“: Die 15-Kilometer-Regel ist nicht die schlimmste Sache der Welt
Die drohende Einschränkung des Bewegungsradius betrifft natürlich auch die Radfahrer. Unser Kolumnist bleibt trotzdem gelassen.
Michael Wiedersich ist Sportjournalist und Radsporttrainer. Hier schreibt er im Wechsel mit Läuferin Jeannette Hagen.
In der letzten Woche geriet die kleine Berliner Radsport-Welt ein wenig aus den Fugen. Grund war der Bund-Länder-Beschluss, dass der Lockdown nicht nur verlängert, sondern sogar verschärft wird. Besonders die drohende Einschränkung des persönlichen Bewegungsradius brachte den einen oder anderen aus der Fassung.
Denn anders als bisher würde das nun auch für die ambitionierten Fahrradfahrer gelten, die sich am Wochenende weiter als 15 Kilometer von der Stadtgrenze Berlins entfernen wollen. Ungemach naht also, selbst wenn das Wetter gerade alles andere als zum Outdoor-Radeln einlädt.
In solchen Fällen ist es immer ratsam, einmal in die Vergangenheit zu schauen. Als im März letzten Jahres die Bewegungseinschränkungen in einigen europäischen Ländern verkündet wurden, lag es scheinbar außer jeglicher Vorstellungskraft, dass es soweit bei uns auch einmal kommen könnte.
Während wir uns hier über die leeren Straßen freuten und ausgedehnte Radtouren ins Umland machten, durften sich in Frankreich, Spanien und Andorra die Einwohner gerade einmal einen Kilometer von ihrem Wohnort entfernen. Die dort ansässigen Hobby-Radfahrer konnten das vermutlich verkraften, für die Rad-Profis aus diesen Gegenden kam das aber einem Berufsverbot gleich.
Die Not macht erfinderisch
Die Not machte dabei viele erfinderisch. Ein Ex-Profi in den Pyrenäen zum Beispiel kam auf die Idee des „Garden Cyclocross“. Dazu baute er sich mit Hilfe der Nachbarn einen Parcours durch die verschiedenen Vorgärten der Anwohner. Auf Mallorca soll sich jemand etwas entfernt von seinem Wohnort Ziegen gemietet haben. Da sie auch regelmäßig gefüttert werden mussten, hatte er trotz Ausgangssperre einen triftigen Grund, dort täglich mit dem Rad hin und zurück zu fahren.
Mein Bild des Jahres zum Thema Ausgangsbeschränkungen stammt von Robert Gesink. Der niederländische Rad-Profi vom Team Jumbo-Visma fuhr in seinem Wohnort in Andorra fast anderthalb Monate täglich indoor auf 1800 Meter Höhe, einmal sogar 250 Kilometer am Stück. Das Foto oben zeigt ihn, wie er auf dem Heimtrainer fährt – mit dem Blick auf die Berge.
Bei der Tour de France und der Spanien-Rundfahrt war der Bergspezialist nach dem Lockdown ein wichtiger Helfer für seinen Kapitän Primoz Roglic.
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Zurück zur kleinen Berliner Radsport-Welt. Den Ernstfall habe ich in der letzten Woche auf verschiedenen Strecken bereits geprobt. Sehr hilfreich zur Bestimmung des erlaubten Bewegungsradius war dafür der Brandenburgviewer von der Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg (LGB).
Für jeden Brandenburger Landkreis und Berlin kann man dort den entsprechenden Bewegungsradius mit dem aktuellen Inzidenzwert einsehen. Das Fazit: Selbst mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit lässt sich sportliche Betätigung auf dem Rad realisieren und damit weiter das Immunsystem im Kampf gegen das gemeine Virus stimulieren.
Und wenn am Ende gar nichts mehr draußen geht, steht im Keller der indoor-Trainer bereit. Alles in allem scheint mir eine abgewandelte Liedzeile meiner Lieblingsband „Die Ärzte“ am besten zu passen: Die 15-Kilometer-Regel „ist nicht die schlimmste Sache der Welt“.
Michael Wiedersich