Abstieg in die Zweite Liga: Der VfB Stuttgart bekommt sie noch alle klein
Schon wieder steigt der VfB Stuttgart ab. Der Klub schöpft aus großen Möglichkeiten geringstmöglichen Ertrag. Eine Analyse.
Nicolas Gonzalez drückte sich vor Scham tief in das Polster der Ersatzbank. Wo war bloß der Notausgang, der ihn weit weg von diesem Stadion und auch weit weg von den vielen Kameras führte? Es waren noch 45 Minuten auf der Uhr und es war genauso offensichtlich wie ungerecht, dass der Angreifer des VfB Stuttgart den Stempel des Hauptverantwortlichen am dritten Bundesligaabstieg des Vereins aufgedrückt bekommen würde, sollte seine Mannschaft kein Tor mehr erzielen.
Und so kam es. Union ließ keinen Treffer mehr zu, wenige Stunden später titelte die „Bild“-Zeitung auf ihrer Webseite: „Stuttgart muss runter, weil ER beim Tor im Abseits steht.“ Darunter war die Szene aus der neunten Minute abgebildet: Gonzalez einsam und allein vor Unions Torhüter Rafal Gikiewicz. Der Argentinier stand meterweit im Abseits, als sein Teamkollege Dennis Aogo den Freistoß zum vermeintlichen 1:0 verwertete. So aber wurde der Treffer nach Auswertung der Videobilder wieder zurückgenommen. Zur Halbzeit wechselte VfB-Trainer Nico Willig den auch sonst unglücklich spielenden Gonzalez aus.
Nicht nur die „Bild“ hatte sich auf den 21-Jährigen eingeschossen, in den sozialen Medien ergoss sich Häme über den Spieler. Von „der dümmsten Abseitsstellung seit der Erfindung der Abseitsstellung“ war die Rede und auch davon, dass Gonzalez auf Spanisch wohl Vollidiot hieße. Die Reaktionen speziell auf den „Bild“-Artikel waren moralinsauer. Es wurde in diesem Zusammenhang an den Suizid des ehemaligen Nationaltorhüter Robert Enke vor zehn Jahren erinnert, der an schweren Depressionen litt.
Tatsächlich schien der Schluss, dass Gonzalez für den Abstieg ursächlich war, falsch. Da ist zum einen die Frage, ob Aogos Freistoß ohne das Zutun von Gonzalez überhaupt im Tor gelandet wäre. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, ist nicht gesagt, dass die Stuttgarter am Ende in der Liga geblieben wären. Außerdem war besagter Gonzalez beim 2:2 im Relegationshinspiel noch einer der besten Stuttgarter. Und überhaupt: Ist der VfB nicht vielmehr deshalb abgestiegen, weil er über viele Jahre konzept- und ideenlos von Saison zu Saison gestolpert ist, mehr als ein Dutzend Trainer in zehn Jahren verschlissen hat und generell sehr gut darin ist, aus großen Möglichkeiten geringstmöglichen Ertrag zu schöpfen?
Das Spiel am Montag gegen Union war die neuerliche Antwort auf Letzteres. Dass der Marktwert der Stuttgarter Mannschaft mit rund 160 Millionen Euro fast sieben Mal so hoch angesetzt ist wie der des Gegners vom 1. FC Union (23 Millionen Euro) war zumindest phasenweise zu erahnen. Wenn zum Beispiel der hochveranlagte Santiago Ascacibar zum x-ten Mal den Berlinern im Mittelfeld den Ball stibitzte. Oder wenn der nicht minder talentierte Chadrac Akolo mit ein paar fulminanten Drehungen die staunenden Berliner so hüftsteif aussehen ließ.
Doch es mangelte dem VfB in dieser Saison und auch in dieser Relegation nicht an fulminanten Drehungen. Es mangelte dem Verein für Bewegungsspiele an einer Spielidee, einem Konzept. Die Lücken im Mittelfeld waren auch am Montag trotz des eifrigen Ascacibar bedenklich groß, das Spiel in der Offensive war plan- und ideenlos – sprich: All die Versäumnisse dieses Vereins in den vergangenen zehn Jahren spiegelten sich in den Darbietungen der Mannschaft wider – die sich mitunter aus Spielern zusammensetzt, die sogar manche nationale Spitzenmannschaft gerne in ihren Reihen hätte. Aber mit dem VfB ist es in diesen Jahren ein bisschen wie mit dem Hamburger SV: Er kriegt sie noch alle klein.
So ist die spannende Frage, was aus dem nicht funktionierenden Kader der Hochveranlagten wird. Der französische Weltmeister Benjamin Pavard wird in der nächsten Saison für den FC Bayern München auflaufen. Der junge Verteidiger Ozan Kabak kann und wird den Klub wohl verlassen. Es werden noch einige Spieler dazukommen, die sich die Zweite Liga nicht antun wollen. Allein für Pavard und Kabak dürften die Stuttgarter rund 50 Millionen Euro erwirtschaften. Das ist trotz reduzierter TV-Bezüge sehr viel Geld, um mal wieder einen Neuanfang zu starten.
„Unser Job ist jetzt, vorwegzugehen und zu schauen: Wie schaffen wir das?“, sagte Sportvorstand Thomas Hitzlsperger. Der 37-Jährige hatte in den vergangenen Wochen und Monaten einiges dafür getan, dass es in die richtige Richtung gehen kann. Hitzlsperger konnte Sven Mislintat als Sportdirektor sowie Tim Walter als Trainer verpflichten. Beide genießen einen guten Ruf in der Branche, stehen für attraktiven Fußball und vor allem für Erfolg. Und was wird aus Nicolas Gonzalez? Der Vertrag des Offensivspielers bei den Schwaben läuft noch vier Jahre, und der Klub würde ihn wohl gerne behalten. Sie sind beim VfB offenbar nicht der Ansicht, dass Gonzalez den Abstieg zu verantworten hat.