Erinnerungen an den Bomber der Nation: Der Superstar, der nie einer sein wollte
Gerd Müller hatte nie die Ausstrahlung von Franz Beckenbauer, Sepp Maier oder Paul Breitner. Doch ohne ihn wäre der deutsche Fußball nicht der gleiche.
Gerd Müller hatte ein paar Rituale beim FC Bayern, vor allem später, in seiner zweiten Karriere beim Rekordmeister, die nicht mehr so groß war wie die erste. Sein Auto parkte er immer an der gleichen Stelle vor der Geschäftsstelle an der Säbener Straße, der Platz zwischen zwei Einfahrten war gerade groß genug für einen Pkw, den von Gerd Müller. Er war fast immer früh dran und kam im Trainingsanzug.
In den vergangenen Jahren war es still geworden um ihn. Seit 2014 wurde der Jahrhundert-Stürmer in einem Pflegeheim betreut. Kurz vor seinem 70. Geburtstag hatte der FC Bayern die Alzheimer-Erkrankung des ehemaligen Spielers öffentlich gemacht. Kurz darauf gab Ehefrau Uschi einen kleinen, aber nicht sehr privaten Einblick. Er fühle sich wohl und sei zu Hause, sagte sie. Und es gehe ihm den Umständen entsprechend gut.
Gerd Müller hatte langsam vergessen, die Erinnerung war ihm abhandengekommen, die Erinnerung an eine unvergleichliche Karriere, an schöne Tore, an wichtige Tore, an ein Leben, das meistens sehr schön, aber mittendrin auch einmal ein bisschen traurig war.
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Müller blieb in seinen letzten Lebensjahren unauffällig – fast so wie er es auch davor immer gerne gehabt hätte. Er war kein Popstar des Fußballs, rote Teppiche mied er, wenn es ging. Den feinen Zwirn holte er nur zu besonderen Anlässen aus dem Schrank. Am liebsten trug er seinen Trainingsanzug, den rot-grauen vom FC Bayern München. Offizielle Auftritte waren ihm ein Gräuel: „Da sträube ich mich immer“, hat er einmal gesagt. Als er zu Franz Beckenbauers großem Fest zum 60. Geburtstag eine Rede halten musste, fühlte er sichtbar unwohl. Er selbst feierte ein paar Wochen später seinen runden Geburtstag wie fast immer: Ganz privat, nur im engsten Familienkreis. Denn eine rauschende Party, „das ist nichts für mich“.
Früher, in den siebziger Jahren, als Gerd Müller noch für den FC Bayern Tore schoss, hat er sich wohl übel damit arrangiert, herumgereicht, gefeiert und hofiert zu werden. Der gelernte Weber hatte nie die Nonchalance eines Franz Beckenbauer, nie die humoristische Ader eines Sepp Maier und auch nicht das Rebellische eines Paul Breitner. Er war kein Geschäftsmann wie Uli Hoeneß später und erst recht fehlte ihm das Talent zum Showman. Dass er sich als Sänger versuchte („Dann macht es bumm“) oder eine kleine Rolle in einer Filmkomödie („Wenn Ludwig ins Manöver zieht“) annahm, war wohl nicht seine Idee.
Auf Müller trifft das Attribut bodenständig mehr noch als auch viele Kollegen zu. Er stand den Fans so nahe wie nur wenige, die so erfolgreich waren wie er. Dass er stets im Schatten des großen Franz Beckenbauer stand, schien ihm nichts auszumachen. Der „Kaiser“, sein Teamkollege, wusste aber immer, was der FC Bayern seinem erfolgreichsten Stürmer zu verdanken hat. „Ohne den Gerd und seine Tore wären wir alle nicht hier und würden noch in der Bretterbude sitzen", sagte Beckenbauer. Ähnlich sah es der Maier Sepp, die Katze von Anzing. Hätte es Müller und seine Tore nicht gegeben, „wäre heute an der Säbener Straße ein öffentlicher Busparkplatz, ein Straßendepot oder sonst etwas“, stellte der ehemalige Torhüter fest. „So einen wie ihn hat es nie wieder gegeben.“
Als Müller später im Nachwuchs-Trainerteam und als Assistent unter dem damaligen Amateur-Coach Hermann Gerland bei Bayern arbeitete, nutzte der Verein die Popularität Müllers. Der ehemalige Stürmer betreute lange nebenher bei Champions-League-Spielen Gäste des Hauptsponsors. Aber vom Ruhm vergangener Tage war damals schon nicht mehr viel geblieben, nicht viel Materielles jedenfalls. Die Erinnerung der anderen an seine Erfolge natürlich, und ein paar sehr bemerkenswerte Zahlen: Platz eins in der ewigen Torjägerliste, 356 Mal hat er in 427 Bundesligapartien getroffen, 68 Mal in 62 Länderspielen. Das Siegtor zum 2:1 im WM-Finale 1974 gegen die Niederlande war wohl sein wichtigstes Tor, für Deutschland, für Bayern gelangen ihm viele wichtige, viele entscheidende.
Seine Bestmarke aus der Saison 1971/72, als er mit 40 Treffern Torschützenkönig wurde, wurde erst in der vergangenen Saison von Robert Lewandowski um ein Tor übertroffen. Er hat mit fast jedem Körperteil getroffen: mit dem linken, dem rechten Fuß, mit dem Kopf und manchmal auch mit dem Hinterteil – und versuchte dabei nie etwas Kompliziertes, keine Kunststücke am Ball, keine sehenswerten Dribblings. Er war ein Genie, ein Torjäger, wie sein Namensvetter Thomas Müller fand, „der über allen anderen schwebt“, noch immer. Für Bundestrainer Joachim Löw war er „ wahrscheinlich der allergrößte Stürmer, den wir in Deutschland hatten“.
Müller verstand allerdings nie, warum es niemand geschafft hat, besser als er zu sein. Heutzutage, fand er rund um seinen 60. Geburtstag, als der Fußball schon schneller und taktischer geprägt war als zu Müllers aktiven Zeit, hätten es die Stürmer sogar leichter als er einst, wegen der Viererkette. Er war sich sicher, dass er gut 30 Jahre nach seinem Rekord „wahrscheinlich mehr als 40 Tore“ geschossen hätte.
Nach dem Karriereende folgten schwere Tage
Die Fußball-Karriere von Müller begann in Nördlingen, einer Kleinstadt im Schwäbischen. Als Neunjähriger war er zum TSV Nördlingen gekommen, schoss allein in der letzten Saison als Jugendspieler 180 der 204 Toren, die die Mannschaft insgesamt erzielt hatte. Bei den Senioren stellten die Gegner bald einen Sonderbewacher für den wendigen und treffsicheren Stürmer ab. Bald wurden auch die großen Klubs aus der Landeshauptstadt auf das Talent aufmerksam. In Nördlingen haben sie später, als Müller bereits weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt war, an das ehemalige Wohnhaus der Familie eine Tafel montiert - zur Erinnerung an den „weltberühmten Fußball-Nationalspieler, genannt Bomber der Nation“.
1964 lieferten sich die beiden großen Münchner Vereine ein Wettrennen um Müller. Bayern-Geschäftsführer Walter Fembeck war eineinhalb Stunden schneller in Nördlingen als sein Kollege vom Lokalrivalen TSV 1860. Der damalige Regionalligaklub gewann den Kampf um das Stürmertalent gegen die sportlich erfolgreicheren "Löwen". Im Juli 1964 unterschrieb Müller bei den Bayern einen Vierjahresvertrag. Eine Ablöse musste der Verein damals auch schon bezahlen - 4400 Mark.
Dann hatte er, sagte Müller später, "immer den richtigen Trainer zum richtigen Zeitpunkt". Tschik Cajkovski, die Vaterfigur, der ihn anfänglicher Skepsis doch förderte und ihn liebevoll "kleines, dickes Müller" nannte. Oder Branko Zebec, der Schleifer, bei dem er oft Strafrunden laufen musste im Training. „Aber vom Fußball", sagte Müller einmal, „hat der Zebec was verstanden. Da sind wir mit nur zwölf Spielern im Kader Meister geworden."
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Seinem ersten nationalen Titel folgten drei weitere, außerdem holte Müller mit dem FC Bayern den Europacup der Pokalsieger und dreimal den der Landesmeister, wurde 1972 Europa- und zwei Jahre später Weltmeister mit der deutschen Nationalmannschaft. Tauschen wollte er nie mit den besser bezahlten Profis zwei, drei, vier Jahrzehnte später, denn, wie er fand: „Die schönere Zeit hatten wir."
Die schöne Zeit bei Bayern war für ihn aber vorbei, als Pal Csernai mitten in der Saison 1978/79 Trainer wurde. Der hatte das Idol auf die Bank setzen wollen. Müller fühlte sich gedemütigt, bat den Verein um seine sofortige Freigabe und nahm ein Angebot aus den USA an. Er spielte noch zwei Jahre bei Smith Brothers Lounge Fort Lauderdale und betrieb nebenbei ein Steakrestaurant - sein größter Fehler, wie einmal zugab. Der Versuch, sich mit Frau Uschi und Tochter Nicole nach der aktiven Karriere eine Existenz in Florida aufzubauen, ging gründlich schief. Er kehrte nach München zurück - und da "wusste ich auf einmal nicht, was ich tun soll".
Es folgten schwere Tage: Ehekrise, Alkoholprobleme. Mit Hilfe der Weggefährten vergangener Tage, Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer, meisterte er die Schwierigkeiten schließlich und war den Ex-Kollegen auf ewig dankbar: „Die beiden haben großen Anteil daran, dass alles anders wurde." Er hat den Trainerschein gemacht, wurde eingebunden in den Betreuerstab des Rekordmeisters. 1992 war das. Es gefiel ihm so gut, dass er blieb. Bis er begann, das Leben zu vergessen. Am Sonntag ist Gerd Müller im Alter von 75 Jahren gestorben.