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Wunderschuh? Beim London-Marathon durfte Weltrekordhalter Kipchoge den neuen Nike bereits tragen - und gewann.
© Reuters

Kolumne „Losgelaufen“: Der Laufsport ist in Gefahr!

Er wiegt 184 Gramm, ist neonfarben, hat eine Carbonplatte und kostet 250 Euro. Ein Schuh verändert den egalitären Charakter des Laufens.

Vielleicht haben Sie es noch nicht mitbekommen, aber der Laufsport ist in Gefahr! Die Bedrohung ist 184 Gramm schwer, knallig orange, hat eine eingebaute Platte aus Carbonfasern und kostet 250 Euro. Der „Vaporfly 4%“ – ein Schuh von Nike. Vor Kurzem hat die New York Times Ergebnisse veröffentlicht aus zweijährigen Leistungsdaten von Läufern mit verschiedenen Schuhen. Fazit: Der Vaporfly verbessere die Laufökonomie um vier Prozent, Athleten, die den Schuh tragen, werden später müde und bleiben länger schnell.

Der Kenianer Eliud Kipchoge lief darin in Berlin Weltrekord, zwei Drittel aller Weltklasseläufer tragen ihn – manchmal auch heimlich. Der Äthiopier Herpassa Negasa übermalte beim Marathon in Dubai den Varporfly, da er eigentlich bei Adidas unter Vertrag steht. Er pulverisierte seine bisherige Bestzeit um mehrere Minuten, wurde Zweiter und gewann 40 000 Euro.

"Es gibt kein Material, das schneller macht"

Gleichermaßen fasziniert wie entsetzt habe ich die Bilder im Netz gesehen. Der Schuh könnte den Charakter des Laufens grundlegend verändern. Bei den olympischen Spielen 1960 in Rom wurde der Äthiopier Abebe Bikila sogar barfuß Marathonsieger. Doch mit dem neuen Schuh scheinen die egalitären Gesetze des Laufens nicht mehr zu gelten. Alle Läufer sind gleich, aber manche sind gleicher? Ich bin beunruhigt. Brauche auch ich einen Wunderschuh für 250 Euro?

Niemand kann die Probleme mit den Füßen beim Joggen so gut beschreiben wie Herr Hackenbruch!

schreibt NutzerIn Odinseidank

„Es gibt kein Material, das schneller macht“, sagt Achim Linder als ich seinen Laden in einem kleinen Dorf im Allgäu betrete. Seit fast 30 Jahren führt der frühere Läufer das Geschäft, hat sich allein auf Laufschuhe spezialisiert. In der Region gilt er als Schuhpapst. Seine Kunden kommen teils hunderte Kilometer aus der Schweiz, Österreich, aber auch aus München und Stuttgart. Hunderte Schuhe von 20 verschiedenen Anbietern hat er im Sortiment. Er bezieht Schuhe aus der ganzen Welt, teils total unbekannte Marken. Den Nike-Schuh hat Linder nicht. „Für 250 Euro bekommt man hier zwei Paar ehrliche Schuhe“, sagt er.

Braucht es wirklich Pulsuhr, GPS und Power-Gel?

Ihn stört, dass der Schuh nur etwa 250 Rennkilometer hält. Ein Euro pro Kilometer. Ein herkömmlicher Laufschuh trägt meist viermal so lange und kostet nur die Hälfte. „Es geht nur noch um Gewinnmaximierung“, sagt Linder. Seit Jahren beobachte er mit zunehmender Skepsis die Kommerzialisierung rund ums Laufen. Starterpreise steigen rasant, wer nicht schnell genug ist, wird gebeten aufzugeben. Ausstatter vermitteln das Gefühl, dass man ohne Pulsuhr, GPS-Aufzeichnung, Power-Gel und teure Funktionswäsche gar nicht erst loslaufen sollte.

Schuhpapst: Achim Linder verkauft seit 30 Jahren Laufschuhe.
Schuhpapst: Achim Linder verkauft seit 30 Jahren Laufschuhe.
© privat

„Das Laufen wird missbraucht für Marketing Gags“, sagt Linder. Für Nike, Adidas, Asics und die anderen großen Schuhproudzenten ginge es nur noch darum, den ersten Athleten einen Marathon unter zwei Stunden laufen zu lassen. Ob das sauber möglich ist, bezweifelt Linder. „Aus einem Ackergaul macht man kein Rennpferd.“ Zu seinen besten Zeiten sei er für den Halbmarathon 1:12 Stunden gelaufen. Mehr war nicht drin. „Ich wäre mit keinem Schuh der Welt nur eine Sekunde schneller gelaufen.“

Marketing-Etats steigen, Entwicklungs-Etats sinken

Inzwischen wird alle paar Monate ein neuer Schuh auf den Markt gebracht. Linder sieht das kritisch. „Im Moment sind wir an einem Punkt, an dem selbst bei guten Marken die Qualität zum Problem wird“, sagt er. Die Etats im Marketing würden steigen, in der Entwicklung sinken. „Die Kunst ist heute, einfach ruhig zu bleiben.“ Nicht jeden Werbetrend mitmachen, auf das bisherige Material und die eigene Stärke vertrauen. „Wir haben schon den perfekten Laufschuh“, sagt Linder und verschwindet in der Schuhkammer. Mit einem Arm voll Kisten kommt er zurück, wirft wahllos Schuhe in den Verkaufsraum. „Die Vielfalt ist die Stärke, aber das Material alleine macht es nicht.“

Nach dem Gespräch mit Linder bin ich entspannter. Im Juli bringt Nike das Nachfolge Model auf den Markt. „Vaporfly Next%“ heißt er, ist giftgrün, soll noch schneller und noch teurer sein. Aber mein blauer Laufschuh hält ja noch eine Weile. Überhaupt: Wenn ich Bestzeit laufen möchte, dann weil ich es mir verdient habe – nicht, weil ich es mir leisten kann. Noch 135 Tage bis zum Berlin-Marathon.

Felix Hackenbruch ist Volontär beim Tagesspiegel und leitet die Checkpoint-Laufgruppe. Hier schreibt er im Wechsel mit Radsporttrainer Michael Wiedersich.

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