ARD-Dokumentation „Kampf ums Geschlecht“ : Der grausame Umgang mit Intersexuellen im Sport
Eine ARD-Dokumentation enthüllt: Intersexuelle Athletinnen werden zu Operationen überredet – und dann fallengelassen. Nun sprechen die ersten Opfer darüber.
Es ist eine schwer erträgliche und gleichsam sehr mutige Dokumentation, die die ARD am Freitag um 16.10 Uhr ausstrahlt. Denn am Freitag beginnen die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha, über die auch der öffentlich finanzierte Sender ausführlich berichtet. Und die Dokumentation namens „Kampf ums Geschlecht - Die verstoßenen Frauen des Sports“ kann für viele Menschen ein guter Grund sein wegzuschalten, wenn die Wettkämpfe in der Hitze Katars losgehen.
Die Journalisten Olga Sviridenko, Edmund Willison und Hajo Seppelt haben sich um ein höchst sensibles Thema verdient gemacht. Es geht um Intersexualität im Sport. Intersexuelle Sportlerinnen sind bei vielen Sportverbänden nur dann teilnahmeberechtigt, wenn sie sich einer Hormonbehandlung unterziehen und dadurch ihren Testosteronwert senken. Dieser bringt einen erheblichen Wettbewerbsvorteil mit sich. Das zumindest ist die mehrheitliche wissenschaftliche Meinung.
Die ARD-Recherchen zeichnen ein erschreckendes Bild von den Zuständen der betroffenen Frauen insbesondere in der Leichtathletik. Die Vorwürfe der Protagonistinnen sind gravierend. Die Ärzte, Berater und vor allem die hohen Funktionäre des Leichtathletikweltverbandes IAAF sollen einen geradezu grausamen Umgang mit intersexuellen Sportlerinnen pflegen. Konkret sollen sie Sportlerinnen zu Hormonbehandlungen und Operationen überreden, ohne diese nur ansatzweise medizinisch aufzuklären. Kommt es – so ein weiterer Vorwurf – bei den Sportlerinnen im Zuge der Behandlungen zu Problemen, werden sie allein gelassen. Die Sportlerinnen befinden sich dann in ihren Heimatländern, in denen sie wegen der nun publik gewordenen Intersexualität häufig diskriminiert und stigmatisiert werden.
Die Dokumentation zeigt das Beispiel Annet Negesa. Man sieht, wie die frühere Leichtathletin mit brüchiger Stimme von ihrem Schicksal erzählt, ehe sie nicht mehr kann und in Tränen ausbricht. Negesa ist intersexuell veranlagt. Vor den Olympischen Spielen 2012 in London waren bei der 800-Meter-Spezialistin hohe natürliche Testosteronwerte festgestellt worden. Die IAAF hatte die Läuferin aus Uganda daraufhin gesperrt und ihr geraten, etwas dagegen zu tun, um wieder starten zu dürfen. Für Negesa, die mit dem Laufen ihre ganze Familie ernährte, gab es zum Sport keine Alternative. Er war alles für sie, deswegen ließ sie sich operieren. „Sie haben mir gesagt, es sei eine Art Injektion, sie würden mein Testosteron herausziehen. Aber das ist nicht das, was sie gemacht haben. Als ich am Morgen aufwachte, hatte ich Schnitte“, berichtet Negesa.
Ähnliches erzählt eine weitere Läuferin, die anonym bleiben will. Auch an ihr sei eine Gonadektomie, also eine Entfernung der Hoden, vorgenommen worden. Der Eingriff sei von den Ärzten als harmlos beschrieben worden. „Ich hätte alles dafür getan, um wieder an den Wettkämpfen teilnehmen zu können. Ich hatte gar keine Wahl“, sagt die betroffene Frau. Doch die Folgen für sie wie für Negesa waren gravierend. Beide Sportlerinnen konnten wegen der körperlichen und seelischen Schäden infolge der Eingriffe nie wieder Leistungssport treiben. Sie leiden bis heute schwer darunter. "Ich habe oft daran gedacht, mich umzubringen", sagte die Athletin, die anonym bleiben will: "Sie haben mein Leben gestohlen, meine Existenz. Einfach so haben sie meinen Traum weggenommen. Ich wünschte, dass ich damals in ihren Händen gestorben wäre, weil man sie dann zur Verantwortung gezogen und bestraft hätte."
Die bislang ungelöste Frage aber bleibt, wie man mit intersexuellen Läuferinnen umgehen soll
Der Leichtathletikweltverband gerät durch die ARD-Dokumentation unter Druck. So war der heutige IAAF-Chefarzt Stéphane Bermon Mitautor einer Hormon-Studie, die von mehreren französischen Kliniken durchgeführt wurde und an der auch ein Vertreter des Internationalen Olympischen Komitees IOC als Berater beteiligt gewesen sein soll. „Vier jungen Elitesportlerinnen“, so heißt es in der Studie, sei „eine Gonadektomie vorgeschlagen“ worden. Mittelstreckenläuferin Negesa könnte eine davon gewesen sein. Der Verband gerät aber vor allem deshalb unter Druck, weil er offenbar das Prinzip der sportlichen Chancengleichheit – denn das sollen die Operationen und Hormonbehandlungen bezwecken – über das der körperlichen Unversehrtheit stellt. Frank Ulrich Montgomery, der Präsident des Weltärztebundes WMA, kritisiert das Vorgehen. Es handele sich hierbei um Eingriffe, die nicht medizinisch indiziert seien, sagt der Mediziner. „Wenn diese Operationen ausschließlich aus Gründen der sogenannten Fairness oder aus Gründen der Anweisung der Sportverbände geschehen, halte ich das für höchst problematisch.“
Die bislang ungelöste Frage aber bleibt, wie man mit intersexuellen Läuferinnen umgehen soll. Eine Teilnahmeberechtigung von Intersexuellen sorgt gerade bei Läuferinnen mit Standard-Testosteronwerten für Verärgerung. Die Berliner Mittelstreckenläuferin Caterina Granz etwa sagte vor wenigen Monaten dem Tagesspiegel, dass sich für sie der Wettkampf gegen Frauen mit intersexuellen Anlagen nicht richtig anfühle. Sie könne alle Läuferinnen verstehen, die ein Problem damit hätten. Zumal Intersexuelle von Scouts explizit gesucht würden. „Auf der anderen Seite muss man Intersexuellen die Möglichkeit geben, an Wettkämpfen teilzunehmen“, sagte Granz damals.
Der Umgang mit dem Thema ist schwierig. Die ARD-Dokumentation jedenfalls ist ein weiterer Beweis dafür, dass der professionelle Sport damit heillos überfordert ist. Dabei hat Intersexualität eine lange Geschichte, gerade in der Leichtathletik. Bis 1966 gab es vor allem unbestätigte Gerüchte um Leichtathletinnen, denen unterstellt worden war, von männlicher Natur zu sein. Über viele Jahre wurde das Thema Intersexualität tabuisiert. Spätestens ab den 1960er Jahren begann eine Art Hetzjagd gegen Intersexuelle oder Frauen mit maskulinen Zügen. Sie spiegelte sich wider in Geschlechtstests Mitte der 1960er Jahre, bei denen die Frauen sich ausziehen mussten und abgetastet wurden, ehe später weniger aufdringliche Methoden angewandt wurden.
Das Thema lässt die Leichtathletik bis heute nicht los. Der bekannteste Fall ist Caster Semenya, die überragende Läuferin auf der Mittelstrecke. Semenya musste bereits mit künstlich gesenktem Testosteronwert starten, ehe der Verband sie ab 2015 wieder mit naturgegebenen Hormonhaushalt für die Wettkämpfe zuließ, um sie dann doch wieder zu sperren. Semenya hat wie auch die indische Sprinterin Dutee nie daran gedacht, sich operieren zu lassen. Die beiden zogen vor die Gerichte.
Doch das Erschütternde in der Thematik liegt darin, dass Frauen wie Semenya, Dutee oder Negesa Ausnahmen sind. Die wenigsten der betroffenen Frauen dürften sich gegen die offenbar vielfach empfohlenen medizinischen Eingriffe wehren. Zum einen, weil die Gefahr besteht, dass der Fall bekannt wird. Zum anderen, weil dann ihre sportliche Karriere stark gefährdet ist. Es für die meisten, wie es die anonyme Protagonistin in der ARD-Dokumentation beschreibt: Sie haben keine Wahl.