Klimasünden und Menschenrechtsprobleme: Die Leichtathletik-WM in Katar könnte ein Desaster werden
Viele Sportler nehmen gar nicht erst teil, wenn die Titel in der Leichtathletik in Doha vergeben werden. Das hat gute Gründe.
Katrin Dörre-Heinig weiß noch genau, wie sich Hitze zu ihrer aktiven Zeit anfühlte. Als das innere Unwohlsein mit jedem weiteren Schritt anwuchs und sie dem eigenen Körper am liebsten entfliehen wollte. Als die Qual ein nicht mehr erträgliches Ausmaß annahm. „Ich konnte mit Hitze überhaupt nicht gut umgehen“, sagt sie dem Tagesspiegel. Vielleicht erklärt das, warum die deutsche Marathon-Bundestrainerin eher erleichtert denn besorgt wirkt, dass bei den am kommenden Freitag startenden Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha keine deutschen Athleten beim Marathon teilnehmen werden.
Um 23.59 Uhr Ortszeit fällt der Startschuss für die Läufer am WM-Eröffnungstag. „Es wird dort unverschämt heiß sein, auch nachts kann man mit 30 Grad rechnen“, sagt Dörre-Heinig. Das sei für viele Läufer eine enorme Belastung. Es bestehe die Gefahr, dass es zu einem extremen Anstieg der Körperkerntemperatur komme, befürchtet die frühere Weltklasse-Läuferin. „Ich denke, gerade die Mitteleuropäer werden große Abstriche machen müssen.“ Sie werden Abstriche machen müssen oder sie werden – wie die Deutschen im Marathon – gar nicht erst antreten.
Die Weltmeisterschaften im Emirat am Persischen Golf stehen unter besonderen Vorzeichen, unter besonders schlechten. Sie finden nicht nur in einem Land statt, in dem es für sportliche Höchstleistungen in der Leichtathletik viel zu heiß ist. Sie sind eben wegen des Klimas auch sehr spät angesetzt, Ende September statt wie sonst üblich im August. Das ist für die Athleten vor allem deshalb ein Problem, weil im nächsten Jahr die Olympischen Spiele in Tokio anstehen und die Nachwirkungen von Doha in manchen Disziplinen ein gutes Ergebnis oder gar die Qualifikation für Olympia gefährden. Und Olympia ist immer noch das Größte für Leichtathleten.
Hitze und Zeitpunkt der WM sind dabei nur zwei Punkte, die die Veranstaltung den Sportlern madig machen. Zudem ist da die schwierige gesellschaftspolitische Situation in dem Emirat. Menschenrechte werden dort immer noch nicht ernst genommen. Hinzu kommen die Spannungen im Großraum Mittlerer Osten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die USA mit ein paar Verbündeten in einen Krieg gegen den Iran ziehen.
Dann könnte die WM in Katar nicht durchgeführt werden. Das ist immer noch ein Schreckensszenario, aber der Schrecken ist in der aktuellen weltpolitischen Lage nicht so fern. Es gibt in jedem Fall viele Gründe, sich eben nicht auf den diesjährigen Höhepunkt in der olympischen Kernsportart zu freuen. Sondern zu hoffen, dass das Event einigermaßen glimpflich über die Bühne geht.
Eine beispiellose Kühlanlage
Das ist auch das Stimmungsbild, wenn man sich bei den deutschen Athleten umhört. Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler etwa fragte sich vor wenigen Monaten im Gespräch mit dem Tagesspiegel, „warum die Weltmeisterschaften an einem Ort stattfinden, den man herunterkühlen muss, wenn es so viele andere schöne Orte gibt, die nicht heruntergekühlt werden müssen“.
Im 40.000 Zuschauer fassenden Khalifa-Stadion werden dank eines beispiellosen Kühlsystems 20 bis 24 Grad herrschen – bei einer Außentemperatur von bis zu 40 Grad. „Das ist definitiv kein grüner Gedanke“, findet Röhler. Außerdem ist es eine Gefahr für die Athleten.
Viele Teilnehmer, die auf das klimatisierte Stadion angesprochen werden, treibt die Sorge um, sich bei den Weltmeisterschaften zu erkälten. Zumal zwar die Arena und einige Aufwärmbereiche klimatisiert sind, es aber auch frei liegende Vorbereitungsstätten gibt. „Wir kommen dann vom sehr, sehr warmen Einlaufplatz ins sehr, sehr kühle Stadion“, sagt Röhler. Die Weltmeisterschaften in Doha bringen es paradoxerweise mit sich, dass sich die Sportler je nach Disziplin schnell eine Erkältung oder eben einen Hitzschlag einfangen können.
Dabei bemängeln die Athleten nicht nur die Bedingungen bei der WM, sondern auch die Bedingungen generell in dem Land. Diskuswerfer Christoph Harting etwa machte bei den Deutschen Meisterschaften im August auf die „katastrophalen Arbeitsbedingungen“ in Katar aufmerksam, „gerade in einer Stadt wie Doha“. Das deckt sich mit einem jüngst veröffentlichten Fazit dazu von Amnesty International. Demnach bleibt das Golf- Emirat besonders im Hinblick auf die Bauarbeiten für die Fußball-WM 2022 „ein Tummelplatz skrupelloser Arbeitgeber“.
"Modernes Sklaventum"
Diese Arbeiten werden in Katar hauptsächlich von Gastarbeitern aus Nepal, Pakistan und Indien ausgeführt. Von mehreren Menschenrechtsorganisationen wurden die Arbeitsbedingungen als „modernes Sklaventum“ beschrieben. Hunderte Menschen auf den Baustellen starben in den vergangenen Jahren, viele an Herzversagen nach extrem langen Schichten oder durch schwere Arbeitsunfälle.
Dieser durchweg negative Kontext der WM in Doha ist der Grund, warum viele Sportler in Katar nicht zwingend dabei sein wollen. Im deutschen Kader etwa werden nicht nur Marathonläufer fehlen. Auch David Storl verkündete im August sein vorzeitiges Saison-Aus. Der Kugelstoß-Weltmeister hatte mit vielen Verletzungen zu kämpfen. Gut möglich aber, dass er sich unter anderen Voraussetzungen für die Titelkämpfe noch einmal hätte aufraffen können. Ähnliches gilt für die Siebenkämpferin Carolin Schäfer, die vor wenigen Tagen ihre WM-Teilnahme wegen Kniebeschwerden absagte. „Es ist die richtige Entscheidung, um meinem Körper die nötige Ruhe zu geben und mich mit voller Kraft auf die Olympischen Spiele vorzubereiten“, sagte sie.
Die Bedenken sind groß
Für die Ausrichter aus Katar sind Ausfälle wie jene von Storl oder Schäfer verkraftbar. Anders verhält es sich, wenn internationale Topstars fehlen. Zu nennen ist insbesondere Mo Farah. Der Brite ist seit vielen Jahren die Lichtfigur auf der Lang- und Marathonstrecke, ein Ausnahmeläufer, der das Publikum mitreißen kann. Zu gerne hätten ihn die WM-Organisatoren in Doha im Marathon gesehen. Der 36-Jährige aber sagte schon vor Monaten ab. Er wolle lieber beim Chicago- Marathon im Oktober mitmachen, teilte er mit. Außerdem sei das, so fand auch er, besser hinsichtlich seiner Vorbereitung auf die Olympischen Spiele.
Die Leichtathleten hatten noch nie so wenig Lust, an einer WM teilzunehmen, wie in diesem Jahr. Aber trotz vieler Bedenken wird das Gros der Athleten in Doha dabei sein. „Das ist mein Job“, sagt Speerwerfer Röhler. Er werde die WM nicht boykottieren. Schließlich sei eine Sportlerspanne viel kleiner als die strukturelle, politische Geschichte, die hinter dem Event in Doha stecke. „Die Frage ist ja: Wie lange kann ich Leistungssportler sein?“, meint der 27-Jährige. „Von daher nehme ich das schon mit.“ Auch die Weitspringerin Malaika Mihambo wird teilnehmen.
Ihr wird zugetraut, eine Goldmedaille für Deutschland zu gewinnen. Die 25-Jährige ist sich der vielen Probleme rund um die WM bewusst. Sie gibt aber im Gespräch mit dem Tagesspiegel zu bedenken, „dass wir Athleten in solche Entscheidungsprozesse letztendlich nicht eingebunden sind“.
Tatsächlich sind die Sportler die letzten, denen man vorwerfen kann, dass der Saisonhöhepunkt der Leichtathletik unter solchen Vorzeichen stattfindet. Vielmehr sind es die Sportverbände, allen voran der Leichtathletik-Weltverband IAAF, die die Verantwortung dafür tragen. Schon die Vergabe der Weltmeisterschaften an Doha im Jahr 2014 soll unter fragwürdigen Umständen zustande gekommen sein. Damals leitete noch der höchst korrupte Senegalese Lamine Diack als Präsident den Leichtathletik-Weltverband.
Drei Jahre zuvor sollen Zahlungen in Höhe von drei Millionen Euro auf das Konto einer Sportvermarktungsfirma von Papa Massata Diack, Sohn von Lamine Diack, geflossen sein. Gezahlt worden sein sollen sie von einem katarischen Medienkonzern. Zwar erhielt dann London den Zuschlag für die Leichtathletik-WM 2017, zwei Jahre später aber war Katar an der Reihe.
Dazu beigetragen haben dürfte zudem, dass sich die Katarer spendierfreudig zeigten und abstimmungsberechtigten Ländern Tartanbahnen finanzierten. „Das Einzige, was die haben, ist Geld“, schimpfte Spaniens Leichtathletik-Verbandschef Jose Maria Odriozola.
Aber was heißt schon das Einzige? Geld regiert den Weltsport, und davon hat Katar mehr als genug. Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft ist eines von vielen sportlichen Großereignissen, die Katar in den vergangenen Jahren ausgetragen hat oder in Zukunft noch austragen wird.
Wie wird es erst bei der Fußball-WM
In drei Jahren steigt das neben den Olympischen Spielen größte Sportevent überhaupt in Katar: die Fußball-Weltmeisterschaft. Es stellt sich bei alldem die Frage, warum das Emirat Milliarden dafür ausgibt. Zumal die Katarer eine andere Sportkultur haben als die Mitteleuropäer. Handball, Radfahren oder Turnen etwa spielen in dem Wüstenstaat keine Rolle. Trotzdem wurden dort in diesen Sportarten in jüngerer Vergangenheit Weltmeisterschaften ausgetragen.
Ein guter Ansprechpartner in dieser Frage ist James M. Dorsey. Der bereits mehrfach für den Pulitzer-Preis nominierte Journalist befasst sich in seinem Blog „The Turbulent World of Middle East Soccer“ seit vielen Jahren unter anderem mit den Zielen, die hinter Katars Engagement im Sport stecken. „Es geht dem Emirat in erster Linie darum, seine Soft Power zu vergrößern“, erklärt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Unter Soft Power versteht man die politische Machtausübung auf der Grundlage von kultureller Attraktivität.
Ein wesentlicher Faktor dieser Attraktivität ist für die katarischen Machthaber der Sport. „Katar nutzt solche medialen Großereignisse außerdem, um auf den gesellschaftspolitischen Fortschritt im Land aufmerksam zu machen, etwa auf das verabschiedete Asylgesetz, die vermeintliche Pressefreiheit oder die angeblich verbesserte Menschenrechtssituation“, erzählt Dorsey. Doch die Wahrheit in Katar, gerade in den letzten beiden Punkten, sei eben anders als von der Monarchie dargestellt.
So instrumentalisiert Katar letztlich sportliche Events für politische Zwecke. Leiden und schwitzen müssen dafür ab kommenden Freitag die Athleten. Angesichts dieser Zusammenhänge empfiehlt sich für manche Teilnehmer vielleicht der WM-Fahrplan, den Diskus-Olympiasieger Christoph Harting vor wenigen Wochen für sich ausgegeben hat: „Einen Tag vorher anreisen, zwei Tage Wettkampf und am nächsten Tag auf Wiedersehen.“