WM 2014: Das Vermächtnis des Kevin-Prince Boateng heißt Sami Khedira
Ghanas Nationalspieler Kevin-Prince Boateng, der ältere der Boateng-Brüder, wird in Deutschland immer noch ein wenig vermisst. Dabei hat die Nationalmannschaft auch ihm ihren neuen Anführer Sami Khedira zu verdanken.
An mangelndem Selbstbewusstsein hat Kevin-Prince Boateng, der ältere Bruder von Jerome Boateng, noch nie gelitten, auch als junger Spund nicht. Knapp neun Jahre ist es jetzt her, dass der Mittelfeldspieler für Hertha BSC sein Startelfdebüt in der Bundesliga bestritten hat. Als er am Tag nach dem 2:2 gegen Borussia Mönchengladbach vom Trainingsplatz kam, stand Boateng, 18 Jahre alt, zum ersten Mal im Zentrum des allgemeinen Interesses. Das Spiel war auch das Aufeinandertreffen zweier großer Mittelfeldtalente gewesen, denen damals eine glänzende Zukunft vorhergesagt wurde: Boateng auf Berliner und Eugen Polanski auf Gladbacher Seite. Ob er sich vorstellen könne, dass beide bei der Weltmeisterschaft 2010 das Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft bildeten, wurde Kevin- Prince Boateng gefragt. „Wieso erst bei der WM 2010?“, fragte er zurück.
Die Geschichte ist etwas anders gelaufen als gedacht. Boateng und Polanski sind tatsächlich Nationalspieler geworden, allerdings nicht für Deutschland. Der eine spielt für Ghana, die Heimat seines Vaters, der andere für sein Geburtsland Polen. Während sich das Bedauern beim Hoffenheimer Polanski in Grenzen hält, gilt Boatengs Wechsel der fußballerischen Nationalität vielen immer noch als großer Verlust – weil er mit seiner Art eine Sehnsucht bedient, die in der deutschen Fußballseele tief verwurzelt ist. Kevin-Prince Boateng trägt die deutsche Fußballgeschichte buchstäblich in seinen Genen. Über seine Mutter ist er mit dem 54er WM-Helden Helmut Rahn verwandt. Dem Boss. Er repräsentiert das Unangepasste, das Widerständische, das für den Geschmack der Traditionalisten in der aktuellen Nationalmannschaft nur unzureichend vorhanden ist.
Boateng hat diese Sehnsucht kurz vor der Weltmeisterschaft noch einmal mit entsprechenden Aussagen befeuert. In einem Interview hat er darüber geklagt, dass die Nationalmannschaft „keine Typen und Charaktere“ mehr habe, die auch mit Druck umgehen und eine Mannschaft mitreißen könnten. Wenn Boateng am Samstag in Fortaleza mit Ghana auf die Nationalmannschaft trifft, wird der Druck allerdings nicht aufseiten der Deutschen liegen. Die Ghanaer haben zum Auftakt gegen die USA verloren, eine weitere Niederlage würde wohl das WM-Aus bedeuten. Doch ob Boateng tatsächlich den Widerstand gegen das Ausscheiden anleiten darf, ist keineswegs sicher. Gegen die USA blieb er fast eine Stunde auf der Ersatzbank.
2007 ging die Beziehung zwischen Kevin-Prince Boateng und DFB in die Brüche
Dass Boateng diese Entscheidung seines Trainers nicht sonderlich behagt hat, war auch noch in den Tagen nach dem Spiel zu sehen. Im Training hinterließ er bei den Beobachtern einen ziemlich lustlosen Eindruck. Im Sommer 2007 muss das ähnlich gewesen sein, als die deutsche U 21 bei einem Turnier in Toulon antrat. In jenen Wochen hat die Beziehung zwischen Kevin-Prince Boateng und dem Deutschen Fußball-Bund wohl den irreparablen Schaden genommen, der den gebürtigen Berliner letztlich dazu bewogen hat, für Ghana zu spielen. Es geht die Geschichte, dass vor allem Boateng damals den läppischen Auftritt der deutschen Junioren zu verantworten hatte; dass er sich gegen allzu großen Eifer ausgesprochen habe, damit man früher in Urlaub fahren könne.
Eugen Polanski war damals Kapitän der U 21, Kevin-Prince Boateng ihr informeller Führer, weil er eine Gruppe Halbstarker um sich geschart hatte, die er zum Teil schon vom Bolzplatz im Wedding kannte: seinen Bruder Jerome, Chinedu Ede, Änis Ben-Hatira, Ashkan Dejagah und Patrick Ebert. Als die U 21 zwei Jahre später den Titel bei der Europameisterschaft in Schweden gewann, standen weder Polanski noch Boateng im Aufgebot. Stattdessen hatte Trainer Horst Hrubesch kurz vor der EM Sami Khedira zum Kapitän ernannt. Es war eine Entscheidung, die bis heute wirkt, bis tief in die Nationalmannschaft hinein.
Anfangs hatte Khedira in seiner Rolle einen schweren Stand. Wenn er feurige Reden hielt, lachten Boatengs Freunde hinter seinem Rücken. Doch das hat sich schnell gelegt. Die Machtfrage ist damals fußballerisch beantwortet worden. Dass Khedira heute bei Bundestrainer Joachim Löw und in der Nationalmannschaft eine besondere Position einnimmt, liegt auch in der U-21-EM von Schweden begründet – weil Khedira damals jene Spieler auf seine Seite gebracht hat, die heute das Gerüst der Nationalmannschaft bilden. Beim WM-Auftakt gegen Portugal standen fünf Spieler in der Startelf, mit denen Khedira 2009 den EM-Titel geholt hat: Torhüter Manuel Neuer, die drei Verteidiger Jerome Boateng, Mats Hummels, Benedikt Höwedes und Mittelfeldspieler Mesut Özil.
Von Boatengs Berliner Ghetto-Gang hat es hingegen kein einziger in die Nationalmannschaft geschafft – von seinem jüngeren Bruder Jerome abgesehen, den Horst Hrubesch damals auf die richtige Seite geschoben hat. Auch Kevin-Prince Boateng hat längst nicht die Karriere gemacht, die für ihn vorgezeichnet schien. Für einen Spieler mit seinen Anlagen sollten die besten Adressen des Weltfußballs gerade gut genug zu sein. Stattdessen spielt er jetzt, mit 27, bei Schalke 04. Ein respektabler Klub, sicher, aber international nicht unbedingt die große Nummer. Sami Khedira hingegen hat gerade mit Real Madrid die Champions League gewonnen. Er ist längst auf der linken Spur an Kevin-Prince Boateng vorbeigezogen – mit Blinker und Lichthupe.
Stefan Hermanns