Potenzial ist vorhanden: Da geht noch was bei Hertha BSC
Javairo Dilrosun steht ein bisschen sinnbildlich für Hertha BSC in der Saison 2019/20. Er verfügt über viel Potenzial, ruft es aber nicht konstant ab.
Seit anderthalb Monaten ist Bruno Labbadia jetzt schon Trainer von Hertha BSC, aber noch immer befindet er sich in einer Art Eingewöhnungs- und Kennenlernphase. Am Samstag, nach dem 2:0-Erfolg seiner Mannschaft gegen den FC Augsburg, war er zum Beispiel ganz erstaunt, als er ein bisschen in das Interview hineinlauschte, das Javairo Dilrosun einem Fernsehsender gab. Der Holländer redete Englisch.
Tags darauf hat er Dilrosun darauf angesprochen. „Hast du einen Vogel?“, fragte Labbadia im Scherz. „Du sprichst doch Deutsch und verstehst alles.“
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Wenn man Javairo Dilrosun in seinen besten Momenten auf dem Fußballplatz erlebt, bekommt man womöglich einen falschen Eindruck von ihm und seiner Persönlichkeit. Oder besser: einen nicht ganz vollständigen. Mit dem Ball am Fuß ist Dilrosun mutig und kreativ, manchmal richtig draufgängerisch. Im Gespräch aber wirkt er oft wie ein verschüchtertes Mäuschen. „Er ist vom Naturell einfach ein sehr ruhiger Mensch“ sagt Labbadia.
Das Problem ist, dass Dilrosun, der in diesem Monat 22 Jahre alt wird, diese Seite auch auf dem Fußballplatz noch viel zu oft zum Vorschein kommen lässt. Auch am Samstag wieder: Da war zum einen sein Tor zum 1:0, bei dem Dilrosun seinen Witz aufblitzen ließ. Anstatt nach der Abwehr von Torhüter Andreas Luthe blindlings aufs Tor zu ballern, chippte er den Ball erst noch über das Bein von Verteidiger Felix Uduokhai und schloss dann ab. „Wie er da nochmal aufgezogen hat, das war hervorragend“, sagte Labbadia.
Dilrosun ist fulminant in die Saison gestartet
Wenig hervorragend war hingegen die zweite Halbzeit, in der sich Dilrosun irgendwo im Niemandsland versteckte. „Da hat er sich zu wenig gezeigt“, klagte Labbadia. Dieses Phänomen ist nicht neu, und es beschränkt sich bei Dilrosun dummerweise nicht nur auf einzelne Halbzeiten. Wie schon in der vergangenen Spielzeit, seiner ersten bei Hertha, ist er fulminant in die Saison gestartet; genauso fulminant ist er anschließend in der Versenkung verschwunden.
Bis zum siebten Spieltag dieser Saison gelangen Dilrosun bei fünf Einsätzen drei Tore und zwei Assists. Seitdem ist – bis zum Samstag – nur noch eine Vorlage hinzugekommen. Gegen Augsburg stand Dilrosun erstmals seit dem 3:3 gegen Fortuna Düsseldorf wieder in der Startelf. Damals nahm ihn Labbadias Vorgänger Alexander Nouri beim Stand von 0:3 schon zur Pause wieder vom Feld, weil man das Gefühl haben musste, Dilrosun sei in einem geheimen Sabotageauftrag für die Düsseldorfer unterwegs gewesen.
Vor seiner Rückkehr in die Mannschaft hat Labbadia den Offensivspieler am Freitag im Mannschaftshotel zum Einzelgespräch gebeten. Es ging nicht nur um sportliche Themen, auch private Dinge sprach Herthas Trainer an. „Wir müssen den Jungen einfach ein Stück aus sich herausholen“, sagt Labbadia. „Ich will ihn nicht als Mensch verändern, aber ich will ihm ein Stück behilflich sein, dass er nicht übersehen wird. Er hat Potenzial, aber er muss sich mehr einbringen.“
Labbadia versucht bei Dilrosun im Kleinen das, woran er im Großen bei der ganzen Hertha arbeitetet. Mit der Bandbreite in seinen Aufritten steht der Holländer fast sinnbildlich für die gesamte Mannschaft in dieser Saison: Der Kader hat Potenzial, aber er hat ihn über die gesamte Spielzeit eben nur punktuell abgerufen.
Die Mannschaft hat nach einer klaren Linie gelechzt
Dank Labbadia und seiner Arbeit scheint sich das gerade grundlegend zu ändern. Das Team wirkt plötzlich stabil und in sich gefestigt, weil es nach all den Irrungen, nach all den verschiedenen Vorturnern auf der Trainerposition nun eine gewisse Stringenz gibt – und weil die Mannschaft diese klare Linie nicht nur gebraucht, sondern geradezu nach ihr gelechzt hat. „Er gibt uns Vertrauen, und wenn du Vertrauen spürst, spielst du viel besser“, sagt Dilrosun über den neuen Trainer, den vierten in dieser Spielzeit.
Angesichts der Bedingungen, unter denen Labbadia Mitte April seine Arbeit in Berlin aufgenommen hat, ist das bisherige Resultat seines Schaffens als geradezu phänomenal einzuschätzen. „Wir sind sehr zufrieden mit dem neuen Trainer und seinen Ideen vom Fußball“, sagt Torhüter Rune Jarstein. „Wir sind ein Team jetzt.“
Mit jedem neuen Trainer sah sich die Mannschaft neuen Ideen ausgesetzt – was letztlich vor allem zu einer tiefgreifenden Verunsicherung geführt hat. Das ist jetzt anders. Labbadia hat die Spieler gepackt. Sie wissen, woran sie bei ihm sind, und sie folgen ihm.
Von vier Spielen unter ihm hat Hertha drei gewonnen, dazu kommt ein Punkt beim Champions-League-Anwärter Rasenballsport Leipzig. Dreimal blieb die Mannschaft ohne Gegentor – und erstmals seit dem ersten Spieltag finden sich die Berliner jetzt in der oberen Tabellenhälfte wieder, mit nur noch vier Punkten Rückstand auf einen Europapokalplatz.
„Natürlich haben wir Ziele“, sagt Labbadia. „Wir haben auch kein Problem, uns selbst unter Druck zu setzen.“ Und es ist ja auch eine echt gute Pointe, dass sich Hertha mit dem als Retter geholten Bruno Labbadia jetzt genau jenen Sphären annähert, von denen der vermeintliche Visionär Jürgen Klinsmann immer nur gesprochen hat.