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Mal alle die Klappe halten. Als Claudia Pechstein bei der Weltmeisterschaft im Februar eine Medaille gewann, dachte sie im Ziel zuerst an ihre Kritiker.
© Sören Stache/dpa

Eisschnelllauf: Claudia Pechstein, die Ewige auf dem Eis

Claudia Pechstein läuft auch mit 45 Jahren noch fast allen davon – doch was treibt sie an und wohin will sie eigentlich laufen?

Wenn es nach Eis riecht, wenn der Schwung in die Kurve trägt und dann die Fliehkraft greift. Ein Sog, viel Tempo, fast lautlos, Fahrtwind. Eisschnelllaufen ist ein faszinierender Sport – für wenige Menschen in Deutschland, die ihn ausüben. Für die Außenstehenden ist die Faszination schwer nachvollziehbar. Das Rundendrehen im Oval wirkt monoton, selbst für viele Schlittschuhläufer, denn die Schuhe und Kufen sind anders als bei den Modellen fürs Eishockey oder den Eiskunstlauf, und dann gibt es ja auch kaum Eisschnelllaufbahnen in Deutschland. Überdacht genau drei. In Erfurt, Inzell und Berlin. Und trotzdem kommt Deutschlands erfolgreichste Sportlerin aus dieser Sportart, und das seit einem Vierteljahrhundert: Claudia Pechstein, die Ewige auf dem Eis.

An Pechstein läuft in Deutschland auf den langen Strecken keine vorbei. Auch nicht an der 45 Jahre alten Pechstein. Ein Jahr ist es noch bis zu den Olympischen Winterspielen von Pyeongchang. Bei ihren sechsten Spielen wurde sie 2014 in Sotschi Vierte über 3000 Meter und Fünfte über 5000 Meter. Damals hatte die Berlinerin sofort nach ihrem letzten Rennen gesagt, dass sie weitermache. Nach einigen Tränen. Sie will diese nächste olympische Medaille. Mindestens. Auch um es ihren Kritikern zu zeigen. Das muss sie, wie sie glaubt. Als Pechstein kurz vor ihrem 45. Geburtstag im Februar bei der Weltmeisterschaft in Südkorea über 5000 Meter Silber gewann, hielt sie im Ziel den Zeigefinger vor den Mund. „Das war für alle, die mir das nicht gönnen. Einfach mal die Klappe halten“, sagte sie später.

Warum läuft sie fast allen davon? Und wovor läuft Claudia Pechstein davon?

Olympisches Silber mit 19. Claudia Pechstein 1992 in Albertville.
Olympisches Silber mit 19. Claudia Pechstein 1992 in Albertville.
© Imago-Sport

Das Siegen fällt Pechstein im eigenen Lande nicht schwer, da hat sie keine Konkurrenz. Doch sie hätten das natürlich gern bei der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG). Dort krempeln sie, seit Robert Bartko vor gut zwei Jahren Sportdirektor wurde, alles um. Es gehe ihm um die Umsetzung an der Basis, da sei die „Schlüsselstelle“, sagt Bartko. „Wir machen einen langfristigen Leistungsaufbau.“ Und das betreffe nun die Acht- bis Zwölfjährigen. Bis sich bei den Erwachsenen die ganz großen Erfolge einstellen würden, könne es bis zu 15 Jahre dauern. „Was nicht heißt, dass wir nicht auf dem Wege dahin etwas mitnehmen können.“ Und zur Pechstein sagt der einstige Radprofi: „Claudia ist ein Vorbild von ihrer Willensstärke und Leidenschaft her, sie ist eine große Sportlerin.“

In Deutschland ist nur Pechstein auf Weltklasseniveau

Bei den Winterspielen 2014 gab es keine einzige Medaille für den deutschen Eisschnelllauf. In den Niederlanden zum Beispiel, aber auch in Russland gibt es viel mehr Läuferinnen auf Weltklasseniveau. In Deutschland gibt es einzig Pechstein, die international nur ihrer guten Freundin Martina Sablikova aus Tschechien auf den 5000 Metern nicht wegläuft. Aber Pechstein wird ja noch schneller: Die Zeit, mit der sie bei der Einzelstrecken-WM in Südkorea über 5000 Meter hinter Sablikova Zweite wurde, war ihre beste über diese Distanz seit ihrer Sperre zwischen 2009 und 2011 – also seit dem Zeitpunkt, als die frühe Pechstein abdanken musste, die megaerfolgreiche Pechstein, die fünf Goldmedaillen bei Olympischen Spielen gewonnen hat.

Die strahlende Olympiasiegerin, die aus dem wohl auch inszenierten „Zickenkrieg“ mit Anni Friesinger, gibt es nicht mehr. Die reife Pechstein hat genug mit sich selbst zu tun, sie ist in einem Kampf, der immer mitläuft. Die zweijährige Sperre durch den Weltverband ISU wegen angeblichen Blutdopings, derentwegen sie Olympia 2010 in Vancouver verpasste, wirken nach. Es ist längst bescheinigt, dass eine von ihrem Vater geerbte Blutanomalie ihre Werte zum Schwanken bringt und kein Dopingmittel.

Goldene Jugend. 1994, beim Olympiasieg über 5000 Meter.
Goldene Jugend. 1994, beim Olympiasieg über 5000 Meter.
© Feferberg/AFP

Als sie 2016 vor dem Bundesgerichtshof ihre Klage auf Entschädigung verlor, sagte sie, dass jeder Flüchtling hierzulande Rechtsschutz genieße, nur Sportler nicht. Ihre motzige Art hat ihr in diesem Moment sicher keine neue Sympathie gebracht, obwohl ihr großes Unrecht widerfuhr. Ihr Lebensgefährte Matthias Große sagte vergangenes Jahr: „Das, was Pechstein durchgemacht hat, ist nicht überlebbar.“ Aber sie lebt und läuft noch. Schnell und erfolgreich. Die Berlinerin ist nach dem Silber von Gangneung die älteste WM-Medaillengewinnern aller Zeiten, viele ihrer Konkurrentinnen waren noch nicht geboren, als sie bereits bei Weltmeisterschaften lief. Natürlich gibt es sie, die Rivalität zwischen Jung und Alt im Eisschnelllauf. Manche jüngere Läuferin sehnt das Ende der Karriere von Claudia Pechstein herbei. Die hat einer meckernden jüngeren Kollegin einmal gesagt: „Wenn du schneller als ich laufen würdest, dann wäre ich längst weg.“

Pechstein hat längst ihr eigenes Team

Claudia Pechstein rennt längst auf eigene Rechnung. Sie hat ihr eigenes Team, angeführt von US-Eisschnelllauflegende Peter Mueller als Trainer und unterstützt von jungen Läufern, geht sie das olympische Projekt in einer internationalen Trainingsgruppe an. Das „Team Pechstein“ trägt den Untertitel „The Internationals 2018“, Pechstein rennt parallel zur DESG. Deren Cheftrainer Jan van Veen hat kein Problem damit, dass die Beste nicht nach seinen Konzepten trainiert. Die Ergebnisse von Claudia Pechstein in der Vergangenheit seien „aller Ehren wert“. Und wenn sie mit 45 Jahren noch einmal Olympische Spiele in Angriff nehme, dann sei das doch „perfekt“, sagt der Niederländer. Sportdirektor Bartko findet: „Auch Claudia Pechstein hat im System der DESG mit ihre Grundlagen gelegt.“ Es sei aber akzeptabel, dass sie nun mit einem eigenen Team arbeite, durch ihre Erfolge gebe sie dem System ja etwas zurück, und dann schmunzelt Bartko: „Ab 45 Jahren ist das doch auch prinzipiell okay bei uns.“ Und: „So eine Athletin wird es so schnell nicht mehr geben, die Pechstein ist eine Ausnahme.“

Claudia Pechstein ist eine Ausnahme im internationalen Sport, in dem die Gruppe der erfolgreichen über 40-jährigen Athleten wächst. In Sotschi bei den Winterspielen holte Ole-Einar Björndalen im Biathlon mit 40 Jahren zweimal Gold und im Rodeln gab es einige Medaillengewinner aus der Ü-40-Liga. Boxer Wladimir Klitschko wird bald 41 und der Japaner Noriaki Kasai sprang diese Saison mit 45 Jahren von der Schanze. Auch im Mannschaftssport gibt es viele reife Profis, allen voran der Tscheche Jaromir Jagr. Er ist sogar eine Woche älter als Claudia Pechstein und immer noch einer der besten Eishockeyspieler der Welt.

2018 wären Pechsteins siebte Olympische Spiele

Kondition lässt sich über die Jahre antrainieren, mit der Schnellkraft ist das allerdings anders, sie lässt im Alter nach. Als Sprinterin wäre Claudia Pechstein kaum so erfolgreich. Auf den kurzen Strecken ist das Alter um die 30 optimal, wenn sich Erfahrung und Kraft zu einem günstigen Zeitpunkt treffen. Die These mit den Ausdauersportarten wurde oft im Zusammenhang mit der erfolgreichsten olympischen Kanufahrerin Birgit Fischer bemüht, die 2004 mit 42 noch olympisches Gold gewann. Im Falle Pechstein fällt allerdings auch Experten nicht mehr viel bei der Analyse ein. Generell sei es so, sagt der Berliner Sportmediziner Thorsten Dolla, dass die Leistungsstärke im Alter in unserer Gesellschaft angesichts wachsenden Lebenserwartungen zunehme. „Aber vor Claudia Pechstein kann man nur den Hut ziehen. Weltklasse in so einer anstrengenden olympischen Sportart zu sein, das ist grundsätzlich nicht einfach. Schließlich gibt es da sehr viel Konkurrenz.“ Claudia Pechstein sei eben eine Ausnahme, sagt auch Dolla.

Ein Jahr ist es noch bis zu den Olympischen Winterspielen von Pyeongchang. Dann kann sie es ihren Kritikern zeigen. Doch interessieren sich ihre Kritiker überhaupt noch für sie? Für Pechstein wären es 2018 schon die siebten Spiele – das hat noch keine deutsche Winter-Olympionikin geschafft. Und dann kann sie auch älteste Medaillengewinnerin im olympischen Eisschnelllauf werden. In Südkorea gelingen Pechstein womöglich Rekordeinträge für die Ewigkeit. Mit ihnen könnte sie wachsen, daran kann ihre Sportart Eisschnelllauf in Deutschland wachsen – wenn Claudia Pechstein die Medaille dann nicht nur ihren Kritikern widmet.

„Die Wunden meiner Unrechtssperre werden nie gänzlich verheilen“

Claudia Pechstein feiert ihren zweiten Platz bei der Weltmeisterschaft im südkoreanischen Gangneung.
Claudia Pechstein feiert ihren zweiten Platz bei der Weltmeisterschaft im südkoreanischen Gangneung.
© Ahn Young-Joon/AP/dpa

Claudia Pechstein, wo sehen Sie die Gründe für Ihr Leistungshoch und wie können Sie Ihre gute Form bis zu den Winterspielen 2018 halten?

Ich habe mich in diesem Jahr verstärkt auf die 5000 Meter konzentriert, das hat sich ausgezahlt. Nach der Vorsaison war mir klar, dass ich ein neues Trainingsumfeld benötige, wenn ich die Chance wahren möchte, nochmals aufs Podest zu kommen. Das „Team Pechstein 2018“, das ich dank der Unterstützung durch die Unternehmensgruppe meines Lebenspartners Matthias Große ins Leben rufen konnte, hat mir optimale Bedingungen geboten. Die Jungs, die dazugehören, haben mich im Training immer wieder gefordert und so dazu beigetragen, dass ich dann auch im Rennen die nötigen Körner hatte, das Tempo bis zum Ende hochzuhalten beziehungsweise sogar noch zu beschleunigen. Mit Peter Müller habe ich zudem einen erfahrenen Erfolgscoach an meiner Seite, dem es super gelungen ist, das Training so zu steuern, dass ich zum Saisonhöhepunkt, der Einzelstrecken-WM, in Topform war. Hinzukommt, dass ich bei der WM mit einer superschnellen Kufe am Start war. Meine Techniker von „F&F“ haben für mich einen neuen Schliff gezaubert, den ich bei der WM erstmals gelaufen bin. Das war sicher ein gewisses Risiko. Aber auch das hat sich ausgezahlt. Mit dieser Konstellation aus eigener Trainingsgruppe, erfahrenem Trainer und Top-Material werde ich auch in der Olympiasaison versuchen, das Bestmögliche herauszuholen.

Wäre eine Medaille in Südkorea ein innerliches Pflaster auf die Wunden wegen der Nichtteilnahme in Vancouver?

Die Wunden meiner Unrechtssperre werden nie gänzlich verheilen. Die Spiele in Vancouver sind mir durch die Bosse des Weltverbandes gestohlen worden. Das war Betrug am Fair-Play-Gedanken und an mir. Ich hoffe nach wie vor, dass die ISU dafür eines Tages bezahlen muss. Jede Medaille, die ich seit meinem Comeback gewonnen habe, ist eine schallende Ohrfeige für den Weltverband, der sich 2009 nicht zu blöde war, zu behaupten, in meinem Alter seien solche Top-Leistungen, wie ich sie bringe, sauber nicht möglich. Jetzt sind acht Jahre vergangen und ich laufe mit 45 immer noch annähernd auf dem Niveau wie mit 30, 33, 35 oder 37 Jahren. Nach wie vor bin ich die am häufigsten getestete Athletin der Welt. Alle meine mehr als 600 Proben waren sauber. Ich war immer sauber und werde es auch immer sein. Das wissen mittlerweile sicherlich auch die ISU-Funktionäre, die mich zu Unrecht bestraft haben. Nur fehlt ihnen der Mut, es öffentlich zuzugeben.

Wie sehen Sie die Situation auf den langen Strecken im deutschen Nachwuchs? Kommt da etwas nach, mittelfristig?

Gunda Niemann-Stirnemann war viele Jahre lang das Maß der Dinge, gerade über 3000 und 5000 Meter. Ich hatte jüngst das Vergnügen, mit ihrer Tochter Victoria zu trainieren. Sie bringt Talent, den Fleiß und den Biss mit, es weit zu bringen. 2022 in Peking könnte sie erstmals bei Olympia dabei sein. Wer weiß, vielleicht läuft sie bei ihrer Olympiapremiere ja mit mir gemeinsam im Team? Das wären meine achten Spiele. Und meinen 50. Geburtstag bei Olympia zu feiern, das hätte schon einen gewissen Reiz.

Das Interview führte Claus Vetter.

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