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Im Glanz der anderen. Christoph Kramer wird leicht unterschätzt - obwohl er Weltmeister ist.
© imago/Moritz Müller

Der Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach: Christoph Kramer: Der unterschätzte Weltmeister

Christoph Kramer ist vor allem dadurch bekannt geworden, dass er im WM-Finale ausgeknockt wurde. Für seinen Klub Borussia Mönchengladbach ist er längst unersetzlich.

Vor ein paar Wochen, beim Spiel in Bremen, war Christoph Kramer kurz davor, ein Tor zu schießen. Der Ball wurde von der Seite scharf in die Mitte gespielt, Kramer grätschte in dessen mutmaßliche Flugbahn, und er hatte bereits die Arme in die Höhe gerissen. „Ich war schon in der Kurve“, erzählt der Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach. Zumindest gedanklich. Doch kurz vor Ausbruch der Jubelfeierlichkeiten brachte ein Bremer seine Fußspitze noch an den Ball und klärte zur Ecke. Kramer sackte in sich zusammen, als wäre er von einer Kugel getroffen worden. Dann musste er lachen. „Das war kein Pech mehr“, sagt er. „Das war schon eine höhere Macht, die mich noch gestoppt hat.“

Im Dezember 2014 hat Kramer zuletzt in der Bundesliga getroffen. Dass es in Bremen wieder nicht klappte, war für die Gladbacher zu verschmerzen. Sie führten 2:0, es lief bereits die Nachspielzeit, der Auswärtssieg war ihnen sicher. Gerade deshalb war die Situation für Christoph Kramer wie gemalt. „In dem Moment habe ich gedacht: Jetzt kannst du da vorne reinstoßen. Bei 1:0 hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht.“

Das ist typisch für den 26-Jährigen, der auf dem Fußballplatz nicht nur ein ausgeprägtes Gespür für Gefahr besitzt, sondern diesem Gespür auch verlässlich folgt. Kramer ist zu einem echten Sechser geworden: einem, der nicht in den Vordergrund drängt und dadurch bei flüchtiger Betrachtung auch nicht weiter auffällt; der aber mit seiner selbstlosen Art eine Mannschaft in ihrem Innersten zusammenhalten und seine Nebenleute glänzen lassen kann. Christoph Kramer hat in dieser Spielzeit noch kein Tor geschossen, auch keins vorbereitet, trotzdem sagt Max Eberl, der Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach: „Er spielt eine sehr gute Saison. Man sieht jetzt noch mehr, wie wichtig er ist.“

Als die Gladbacher den Mittelfeldspieler 2016 für 15 Millionen Euro aus Leverkusen zurückholten, war das die höchste Ablöse, die der Klub bis dahin bezahlt hatte. Entsprechend hoch waren die Erwartungen. Ob Kramer sie erfüllt hat oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Seine Kritiker haben vermutlich eine deutlicher sichtbare Gegenleistung für das viele Geld erwartet. Aber Kramer ist nach eigener Einschätzung nun mal „nicht der Spieler, bei dem alle mit der Zunge schnalzen und sagen: Boah, war das jetzt wieder geil gemacht.“ Aber er ist wichtig für das große Ganze.

Manchmal dreht Kramer eine Pirouette mit dem Ball

In seinem Spiel gibt es ein Element, das selbst die Anhänger Borussias verlässlich aufheulen lässt. Oft dreht er eine Pirouette mit dem Ball, wenn er das Spiel mit einem einfachen Pass erheblich beschleunigen könnte. Borussias Spiel ist auf Ballbesitz angelegt. Kramers Drehung um die eigene Achse wirkt da wie ein zusätzliches retardierendes Element. Warum macht er das?, denkt man, schaut auf die neue Spielsituation, die er geschaffen hat und erkennt: Genau deshalb!

„Manchmal muss ich ein bisschen mehr ins Risiko gehen, mich schneller vom Ball trennen und die Lösung eher nach vorne suchen“, sagt Kramer. Aber oft denkt er: „Besser du trittst drauf, drehst dich raus und spielst auf die andere Seite. Gerade nach Ballgewinnen, finde ich es für das Spiel besser, Ruhe reinzubringen und den Ball in den eigenen Reihen zu halten.“ In solchen Situationen, „wenn man lange hinterhergelaufen und der Puls hoch ist“, den Ball gleich wieder zu verlieren – das könnte tödlich sein.

Kramer ist fleißig auf dem Feld, er macht sich viele Gedanken und verfügt über eine ausgeprägte Spielintelligenz. Und trotzdem sagt Borussias Sportdirektor Eberl, dass Kramer ein bisschen unter dem Radar der Öffentlichkeit hinwegfliege. Das aber scheint sich gerade zu ändern. Paradoxerweise ist vielen Kramers Wert erst richtig bewusst geworden, als er nicht gespielt hat.

Ex-Nationalspieler? "Nee, nee, nee", sagt Kramer

Ende Oktober verloren die Gladbacher im eigenen Stadion 1:5 gegen Bayer Leverkusen, nachdem sie zur Pause 1:0 geführt und das Spiel deutlich dominiert hatten. Gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit kassierten sie den überraschenden Ausgleich, fortan versagten sämtliche Sicherungssysteme, so dass quasi jeder Ballverlust im Mittelfeld ein weiteres Gegentor zur Folge hatte. Kramer war verletzt und musste dem Absturz von der Tribüne aus tatenlos zusehen. Hinterher hieß es, mit ihm wäre das vermutlich nicht passiert. „Es ist schon so, dass ich der Mannschaft mit meinen Qualitäten helfen kann“, sagt er. Aber dass die Niederlage allein mit seinem Fehlen begründet wurde, das fand er schon „teilweise unangenehm für meine Person“. Er hat auch nicht das Gefühl, „dass auf mich zu wenig Glanz fällt. Intern spüre ich ganz großes Vertrauen.“

Und extern? Zu Saisonbeginn spielten die Gladbacher bei den hochgelobten Leipzigern. Die Gäste gerieten zweimal in Rückstand und erkämpften sich doch noch ein 2:2. Kramer machte ein überragendes Spiel. „In der zweiten Halbzeit komme ich fast an meine Maximalleistung“, sagt er selbst. „Viel besser kann man es auf dieser Position nicht spielen: Bälle gewinnen, Bälle verteilen, wichtige Zweikämpfe gewinnen, gute Bälle nach vorne spielen. Für mich war das nah an dem perfekten Spiel für einen Sechser.“ In einer Sonntagszeitung bekam er dafür am nächsten Tag die Note vier.

Wenn die Gladbacher am Samstag bei Hertha BSC antreten, wird Kramer erstmals nach seiner Oberschenkelzerrung wieder in der Startelf stehen. Das ist eine gute Nachricht für die Borussia. „Er lenkt und leitet“, sagt Sportdirektor Eberl. Als Kramer Ende der Vorsaison zwei Monate verletzt fehlte, schied die Mannschaft gegen Schalke aus der Europa League aus, verlor sie zu Hause gegen Eintracht Frankfurt im Halbfinale des DFB-Pokals – und kassierte in der Bundesliga drei ihrer insgesamt fünf Rückrundenniederlagen.

Im Fokus des Interesses stehen trotzdem oft andere als Kramer, auch seine jeweiligen Nebenmänner auf der Doppelsechs. Ob das Granit Xhaka mit der breiten Brust war, der feinfüßige Mo Dahoud oder aktuell Denis Zakaria, 20, und Michael Cuisance, 18. Beide sind unglaublich jung und unglaublich talentiert. Und egal, wer von beiden an Kramers Seite spielt: Es ist klar, dass Kramer die dienende Rolle übernimmt. Er hat damit kein Problem, auch wenn er sagt: „Das Einzige, wo ich unterschätzt werde: Ich bin nicht so schlecht mit dem Ball. Ich kann auch ein bisschen kicken.“

Im März 2016 spielte er zuletzt für Deutschland

Christoph Kramer ist immerhin Weltmeister. Na gut, sagen die Leute dann, er hat ja kaum gespielt. Als er nach zwei Kurzeinsätzen im Finale von Anfang an ran durfte, musste er nach einer halben Stunde schon wieder runter. Es ist fast schon typisch für Kramers Bild in der Öffentlichkeit, dass seine Nationalmannschaftskarriere auf diese eine Szene reduziert wird: auf den Knockout durch den Bodycheck des Argentiniers Ezequiel Garay und natürlich auf Kramers Frage an den Schiedsrichter, ob das wirklich das WM-Finale sei. Niemand redet davon, dass er bis zu seiner Auswechslung vollkommen unerschrocken aufgetreten war, obwohl er erst kurz vor dem Anpfiff von seinem Einsatz erfahren hatte.

Ende März 2016 hat Kramer zuletzt für die Nationalmannschaft gespielt. Gegen Italien wurde er in der 90. Minute eingewechselt, um die 4:1-Führung über die Zeit zu bringen. Ein paar Wochen später hat der Bundestrainer noch einmal angerufen und Kramer mitgeteilt, dass er bei der EM nicht dabei sei. Das war bis heute der letzte Kontakt mit Joachim Löw.

Ob er sich schon als Ex-Nationalspieler fühle? „Nee, nee, nee“, antwortet Kramer. „Dafür bin ich zu jung, zu ambitioniert, spiele ich in einem zu guten Verein.“ Natürlich weiß er, dass die Auswahl für den Bundestrainer so groß ist wie vielleicht noch nie, gerade im zentralen Mittelfeld. „Momentan gibt es in Deutschland einen Pool von gefühlt 120 Spielern, die mit zur WM kommen. Von den 120 bin ich wahrscheinlich auch einer. Aber wenn Sie mich fragen, für wie realistisch ich das halte, würde ich sagen, für nicht sehr realistisch.“

Im Zweifel schaut er sich die WM wieder mit seinen Freunden an, so wie er das auch bei der EM gemacht hat. Anfangs wusste Kramer nicht, wie das wohl sein würde: Würde er sich vielleicht wünschen, dass es nicht läuft für die Nationalmannschaft, weil das seine Chancen verbesserte, wieder ins Team zu rutschen? „Ich hatte die Sorge: Hoffentlich kannst du mit deinen Freunden noch Deutschland gucken und bist nicht insgeheim für Polen.“ Die Sorge erwies sich als unbegründet. „Es war ein schönes Erlebnis, dass ich Deutschland richtig die Daumen gedrückt habe“, erzählt Christoph Kramer. „Ich war sehr glücklich festzustellen, dass ich auch gönnen kann.“

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