WM 2014 - Deutschland vor dem Halbfinale: Brasilianischer als Brasilien?
Spielen die Deutschen bei dieser WM brasilianisch? Oder sind die Brasilianer eher die neuen Deutschen? Und was macht Mesut Özil? Wir beantworten die wichtigsten Fragen vor dem Halbfinale Brasilien gegen Deutschland.
Schlottern den Deutschen schon die Knie?
Ein Hauch von Frühling wird heute, mitten im brasilianischen Winter, über dem Estadio Mineirao in Belo Horizonte liegen. Wo auch immer der Blick der Nationalspieler hinfallen wird: fast alles gelb wie ein blühendes Rapsfeld. Die Heimat von Atletico Mineiro und Cruzeiro gilt als einer der großen Fußballtempel im Fußballland Brasilien. „Gegen den Gastgeber zu spielen ist eine große Ehre und eine große Herausforderung“, sagt Bastian Schweinsteiger. Das ist jugendfreie Version aus der PR-Abteilung des Deutschen Fußball-Bundes. Bei Jerome Boateng hört sich das so an: „Das ganze Stadion gegen einen – das ist schon ein tolles Erlebnis.“
Dass die Atmosphäre eisiger geworden ist, haben die Nationalspieler schon bei ihrer Rückkehr vom Viertelfinale aus Rio gemerkt. Sonst wurde ihnen von der Straße immer nur zugejubelt und gewinkt; angesichts des bevorstehenden Duells mit der Seleçao ging jetzt bei den Passanten auch schon mal der Daumen nach unten. Die Mannschaft aber scheint ausreichend auf den Austausch von Feindseligkeiten vorbereitet zu sein. „Wir müssen dagegenhalten und nicht zurückziehen“, sagt Boateng. „Das können wir auch.“
Sind die Deutschen die neuen Brasilianer?
Richtig brasilianisch haben sich die Deutschen bei der Weltmeisterschaft noch nicht präsentiert. Überhaupt war das Turnier für Bundestrainer Joachim Löw noch nicht die Spielstätte für die großen Fußballkünstler. „Es hat keine Mannschaft gegeben, die ihren glanzvollen Offensivfußball durchziehen konnte“, sagt er. Die WM der Strapazen hat sich als WM für Pragmatiker herausgestellt. Und kaum jemand war pragmatischer als die Gastgeber. Insofern müsste die Frage eigentlich lauten: Sind die Brasilianer die neuen Deutschen? „Man denkt, die Brasilianer sind die Zauberer“, sagt Bastian Schweinseiger. „Das ist nicht so.“
Da passt es ins Bild, dass der Seleçao mit Neymar der größte Magier fehlen wird. Ein großer Verlust – auch für die Deutschen. „Es darf niemand glauben, dass unsere Aufgabe durch den Ausfall von Neymar leichter geworden ist, im Gegenteil“, sagt Löw. „Da hauen sich alle anderen noch viel mehr ins Zeug.“ Auch deshalb hielte es Löw für einen Fehler, den neuen Deutschen in den gelben Trikots auf künstlerische Art beizukommen. Gemessen an der Zahl der Fouls trifft zwar eine der fairsten Mannschaften der WM (Deutschland) auf die unfairste (Brasilien). Aber Löw erwartet von seinen Spielern in erster Linie „Zweikampfhärte, Robustheit, Willensstärke“. Es wird sich dann zeigen, wer besser ist: das Original oder die Kopie
Hilft ein Blick in die Geschichte?
Achtelfinale: 2:1. Viertelfinale: 1:0. Halbfinale: Sieg im Elfmeterschießen. So war es 1990, als die Deutschen zum vorerst letzten Mal den WM-Pokal gewonnen haben. 2014 war es bisher so: Achtelfinale: 2:1. Viertelfinale: 1:0. Halbfinale? Man wird sehen, heute, am 8. Juli, dem Jahrestag des Finales von Rom. Wenig hilfreich ist ein Blick auf die Bilanz gegen den Rekordweltmeister. Sie ist ziemlich ernüchternd. Von einundzwanzig Spielen gingen zwölf verloren, nur vier gewannen die Deutschen – kein einziges von diesen vier wurde in Brasilien ausgetragen.
Was macht Mesut Özil?
Wenn der Bundestrainer gegen Brasilien Zweikampfhärte, Robustheit, Willensstärke erwartet, müsste für Özil eigentlich ein Spezialauftrag vorgesehen sein: Er darf Per Mertesacker beim Wasserreichen zur Hand gehen, und vielleicht kann er seine künstlerischen Fähigkeiten ja dadurch nachweisen, dass er ein bisschen mit den Flaschen jongliert. Um mehr Wucht ins Spiel zu bringen, böte sich Lukas Podolski für einen Startelfeinsatz an. Der Londoner ist bisher nur einmal von Beginn an aufgelaufen, hat mit diesem Auftritt aber eine Menge Kredit verspielt. Podolskis Auftritt gegen die USA hat die sportliche Leitung so nachhaltig irritiert, dass ein weiterer Einsatz von Beginn an als unwahrscheinlich gelten kann. Es sieht eher so aus, als glaubte der Trainerstab bei Özil immer noch an das Gute. Der allgemeinen Kritik an seinem Auftreten hat Hans-Dieter Flick deutlich widersprochen. „Wir sehen das schon ein bisschen differenzierter“, sagte der Assistent des Bundestrainers. „Mesut hat sich im Verlauf des Turniers gesteigert.“ Diese Ansicht differiert in der Tat ganz entschieden von den Eindrücken der Allgemeinheit.
Ein Wort zum Bundestrainer …
Grundsätze wie „Never change a winning team“ empfindet Joachim Löw im Grunde als Beleidigung für einen seriösen Trainer. Man muss immer flexibel sein, die Stärken des Gegners erkennen – und vor allem seine Schwächen aufdecken. Varianten, die gegen Frankreich funktioniert haben – Lahm in der Abwehr, Schweinsteiger/ Khedira als Doppel-Sechs –, müssen nicht zwingend auch gegen Brasilien funktionieren. „Wir werden einen guten Plan entwickeln“, sagt Löw. „Und alle können sicher sein: Wir haben noch weitere Varianten.“ Komisch: Wirklich beruhigend klingt das nicht.