Harte Zeiten bei Hertha BSC: Auf Jürgen Klinsmann wartet verdammt viel Arbeit
Das 1:2 gegen den BVB verdeutlicht, wie groß die Baustellen bei Hertha sind. „Wir werden die Intensität nach oben schrauben“, sagt Jürgen Klinsmann.
Auf den ersten Blick sah der junge Mann aus wie ein ganz normaler Profi. Unter seiner kurzen Trainingshose trug er eine lange Unterhose, über den Oberkörper hatte er sich ein handelsübliches Leibchen in Blau-Weiß gestreift, den Vereinsfarben von Hertha BSC. Sein Gesicht verdeckte er mit Wollmütze und einer Art Sportlerschal, der den Halsbereich wohltuend wärmte.
Als er sich am Sonntagvormittag auf dem Schenckendorffplatz unter die Laufgruppe von Henrik Kuchno mischte, flog der Schwindel aber schnell auf. „Wer bist du denn?“, fragte Herthas Athletiktrainer, der mit kurzer Unterbrechung seit mehr als zehn Jahren im Verein tätig ist. „Ich wollte nur sehen, ob ich helfen kann“, entgegnete der zunächst Unbekannte.
Ein Youtuber stört das Training
Wie sich wenig später herausstellte, handelte es sich um Marvin Wildhage, der bei Youtube unter dem Namen „Marvin Undercover“ firmiert und sich Ende Oktober schon einmal beim Zweitligisten Hannover 96 ins Training eingeschlichen hatte. Bei den Niedersachsen nahmen sie die Aktion seinerzeit mit Humor, aber dafür ist angesichts der prekären sportlichen Situation im Moment vermutlich einfach kein Platz bei Hertha BSC.
Pressesprecher Max Jung jedenfalls verwies Wildhage nach einem kurzen Zwiegespräch vom Klubgelände. Bei allen neuen und alten Bekannten, die Trainer Jürgen Klinsmann dieser Tage in sein Funktionsteam berufen hat respektive kennenlernen darf, reicht es im Berliner Lager also zumindest noch zur Identifikation aller Angestellten.
Im Erfahrungsbericht über seine ersten Tage als Cheftrainer bei Hertha BSC fand besagter Youtuber explizit keine Erwähnung, dafür aber fast alle anderen. „Auch für uns Trainer ist das ein spannender Prozess“, sagte Klinsmann, „wir lernen hier 25, 26 individuelle Spieler kennen – und damit meine ich nicht nur ihre Fähigkeiten auf dem Platz, sondern auch den zwischenmenschlichen Bereich.“ Klinsmanns Fähigkeiten als Menschenfänger sind ja hinlänglich überliefert.
Allein mit gutem Zureden, Schulterklopfern und dem ausgeprägten Optimismus des ehemaligen Bundestrainers wird es in den nächsten Wochen jedoch nicht klappen. „Wir haben den Spielern noch einmal deutlich gemacht, dass jetzt sehr viel mehr Arbeit auf sie zukommt“, berichtete Klinsmann von der Nachbesprechung der 1:2-Niederlage gegen Dortmund am Sonntagvormittag.
Klinsmann setzt auf harte Arbeit
Der 55-Jährige ergänzte: „Wir werden die Intensität nach oben schrauben, weil wir natürlich alle die Tabelle lesen und wissen, wo wir stehen.“ Nämlich auf dem Relegationsplatz. Diese Tatsache konnte selbst der Berufsoptimist Klinsmann nicht leugnen, obwohl er extrem bemüht darum war, seiner Premiere in Berlin positive Aspekte abzugewinnen. Er sagte zum Beispiel: „Der Wille und die Unterstützung füreinander waren da, auch die innere Chemie im Team stimmt. Die Jungs können und wollen miteinander.“
Die fußballerischen Grundtugenden konnte man Hertha am Samstag in der Tat nicht absprechen. Allerdings gab es auch eine andere, eine zweite Lesart für die Heimniederlage vor ausverkaufter Kulisse: Dass die Berliner nämlich gegen die wohl labilste Bundesliga-Mannschaft nach eben Hertha BSC gespielt hatten, die seit Wochen ihrer Normalform hinterherläuft. Und dass es ihnen nach dem Platzverweis gegen Mats Hummels auch in 45-minütiger Überzahl kaum gelang, die Spielkontrolle zu übernehmen und Chancen herauszukombinieren.
Klinsmann versuchte in der Hoffnung auf einen Punktgewinn zwar alles; unter anderem löste er nach Hummels’ Platzverweis seine Dreierkette auf und beorderte Innenverteidiger Dedryck Boyata für die Schlussphase ins Sturmzentrum. Angesprochen auf mögliche taktische Varianten für die kommenden Spiele bis Weihnachten bekannte Klinsmann am Morgen danach: „Ich bin ohnehin kein System-Fanatiker, sondern grundsätzlich sehr offen in diesen Fragen.“
Hertha will Ruhe haben - und schottet sich ab
Trotzdem wird es wohl personelle Rochaden in den nächsten Wochen geben; am Samstag etwa erhielt Davie Selke überraschend den Vorzug vor Vedad Ibisevic, der später eingewechselt wurde. „Wir müssen uns als Trainerteam die Frage stellen: Wie passen verschiedene Puzzleteile im mannschaftstaktischen Bereich besser zusammen?“, sagte Klinsmann.
Abgesehen von rein sportlichen Faktoren vertraut Klinsmann dabei nicht zuletzt auf die Kraft der Abschottung. Bis zum Jahresende, so hat es Herthas Medienabteilung kommuniziert, wird es keine Einzelinterviews mit Mitgliedern des neu installierten Funktionsteams geben. Auch die Trainingseinheiten, die bisher fast ausnahmslos öffentlich waren, werden zu einem kleinen Staatsgeheimnis. Künftig sind maximal zwei Einheiten pro Woche für Besucher und Journalisten geöffnet. Nach Dafürhalten der Entscheidungsträger braucht Hertha im Moment vor allem: Ruhe, Ruhe und Ruhe.
Abschließend wurde Klinsmann am Sonntag noch zur EM-Auslosung und den deutschen Gruppengegnern Frankreich sowie Portugal befragt. „Ach nee, Leute. Ich habe den Kopf mit anderen Sachen voll“, antwortete er, setzte sein unvergleichliches Lächeln auf – und trabte auf den Trainingsplatz.