Die Gastgeber feiern die WM 2018: Atemlos auf Russisch
Die Stimmung im Land Wladimir Putins ist bei der WM 2018 viel besser als erwartet. Das liegt an den guten Auftritten der Mannschaft – aber nicht ausschließlich.
Zum Schluss „Kalinka“, das berühmteste aller russischen Volkslieder. Na klar, was sollen Russen auch anderes singen, wenn sie feiern. So stellen sie sich das bei der Fifa vor und so führt es die Stadionregie aus, am späten Dienstagabend in St. Petersburg. Russland führt 3:1 gegen Ägypten, das Volk brüllt sich in Ekstase, „Rossija! Rossija!“, die Akustik im futuristischen WM-Stadion ist schon beeindruckend. Jetzt also noch „Kalinka“, Russlands „Atemlos durch die Nacht“. Und das Wundersame geschieht: Das Stadion singt mit. Laut und beschwingt und schön, „Kalinka, kalinka, kalinka moja! W sadu jagoda malinka, malinka moja!“ Wen stört da schon die nächtliche Kälte und der Wind, der vom Finnischen Meerbusen herüberweht?
„Kalinka“ ist vor gut 150 Jahren komponiert worden. Im Text geht es vordergründig um stachlige Beeren im Garten, aber eigentlich um die Liebe zu einer schönen Frau. Passt ganz gut, denn Russland verliebt sich gerade in sich selbst. In seinen unverhofften Erfolg bei dieser Weltmeisterschaft. In seine Nationalmannschaft, von der doch alle dachten, sie dürfe nur mitspielen, weil es ohne Gastgeber nun mal nicht geht. Und natürlich in Stanislaw Salamowitsch Tschertschessow, den massigen Mann mit dem kahlen Schädel und dem gewaltigen Schnauzbart.
Der Nationaltrainer ist in diesen Tagen zum Gesicht seines Landes geworden. Ein Gegenentwurf zum im Westen verbreiteten Abziehbild des verschlagenen Russen, der das eigene Volk unterdrückt, Andersdenkende einsperrt und nach Belieben in andere Länder einmarschiert. Ein 54 Jahre altes Väterchen mit breitem Lachen, immer für ein Späßchen zu haben oder für hintersinnige Antworten, und wenn die Fragen auch noch so blöd sind.
Tschertschessow kennt auch die Kälte
Seltsames wird an ihn herangetragen nach dem zweiten Sieg im zweiten WM-Spiel. „Stanislaw Salamowitsch, ist das der schönste Tag Ihres Lebens?“ – „Ich hoffe doch, es werden noch sehr viele schönere folgen!“ – „Was ist Ihr nächstes Ziel?“ – „Dass wir schnell in unser Quartier kommen und alle gut einschlafen.“ – „Wird ihre Mannschaft jetzt Weltmeister, nach acht Toren in zwei Spielen?“ – „Ach, ist das in den Statuten so festgelegt?“
Tschertschessow genießt die Wärme der kollektiven Umarmung, aber er kennt auch die Kälte der gesellschaftlichen Ausgrenzung. Kein taktisches Konzept, keine kluge Personalauswahl, viel zu bieder, um auf höchstem Niveau mithalten zu können – noch vor einer Woche stand der Nationaltrainer im Rang einer besseren Witzfigur. Die russischen Zeitungen führten eine muntere Diskussion über seine baldige Entlassung, viele Kritiker trauten der Mannschaft kaum das Überstehen der Vorrunde zu, obwohl die Gegnerschaft von Uruguay, Saudi-Arabien und Ägypten doch von überschaubarer Qualität ist.
Längst hat die Ablehnung einer surrealen Jubelstimmung Platz gemacht. „Danke für diesen Fußball!“, heißt es in der „Rossijskaja Gaseta“, die „Iswestija“ sieht eine „historische Bestleistung“. Der Kommentator vom „Sport-Express“ wird sich mit ein paar Tagen Abstand vielleicht doch ein wenig wundern über die Formulierung: „Wir reißen die Rivalen in Stücke, schießen unwahrscheinlich viele Tore, fliegen über das Spielfeld, begeistern die ganze Welt.“
Die Welt ist auf jeden Fall angenehm überrascht und freut sich, denn ohne Russen macht so eine WM in Russland keinen rechten Spaß. Ohnehin ist die Welt angenehm überrascht von den Gastgebern, von ihrer Herzlichkeit und ihrer Lust am Feiern. In Rostow am Don etwa haben die Einheimischen dem lieben Besuch aus Brasilien eine wichtige Vokabel beigebracht, die Männer und Frauen in den gelb-blauen Leibchen rufen sie immer wieder auf ihrem Marsch zum Stadion: „Piwo! Piwo!“
Die russischen Polizisten stehen Spalier und verzichten auf den Hinweis, dass der öffentliche Konsum von Bier jenseits von Gaststätten verboten ist. Auf dem Roten Platz in Moskau verbrüdert sich am späten Dienstag eine Feiergesellschaft von russischen, mexikanischen, argentinischen und kolumbianischen Fans. Und im kalten St. Petersburg bricht die Hölle los.
Erinnerung an Dortmund 2006
Der Weg vom Stadion zurück in die Innenstadt gestaltet sich so zeitaufwändig wie sonst nur im Berufsverkehr. Weiß-blau-rote Fahnen flattern durch die Nacht, immer wieder mal kommt es zu spontanen Straßensperrungen, weil junge und beseelte Russen ihr Glück mit jedem Bus, Taxi, Privatwagen teilen.
Besonders heftig feiern sie auf dem Newski-Prospekt, der berühmtesten Straße Russlands mit ihren Palästen und Flaneuren. Die knapp fünf Kilometer von der Admiralität an der Newa hinunter bis zum Moskauer Bahnhof werden zur inoffiziellen Fanmeile verwandelt. Hupen, Tröten, „Rossija!“. Kleine Kinder tanzen an den Händen ihrer Eltern. Junge Mädchen trotzen der Kälte in luftiger Bekleidung. Junge Männer lehnen sich bis zur Hüfte aus ihren Autos und lassen die Reifen quietschen. An der Kasaner Kathedrale klettert ein Bursche auf einen Laternenmast und hisst die russische Flagge.
Erinnert alles an den 14. Juni 2006 in Dortmund, an die spontanen Feierlichkeiten nach dem 1:0-Sieg der deutschen Mannschaft über Polen. Stanislaw Tschertschessow gestattet sich den Hinweis darauf, dass es sich bei einer Weltmeisterschaft um ein Turnier handelt, das nach zwei Siegen über die Fußball-Großmächte Saudi-Arabien und Ägypten noch nicht beendet ist. Doch gegen die Macht des Augenblicks kommt niemand an in dieser Nacht.
Die Vokabel „Sommermärchen“ gibt es im Russischen nicht. Google schlägt „Ljetnaja Skaska“ vor.
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