Interview mit Norbert Haug: "Am größten, am stärksten, am totesten"
Der frühere Mercedes-Chef über die Zukunft der Formel 1, das Duell Sebastian Vettel gegen Lewis Hamilton - und einen möglichen Porsche-Einstieg.
Herr Haug, Mercedes-Pilot Lewis Hamilton wirkte in der letzten Saison cooler als Ferrari-Mann Sebastian Vettel, nervenstärker, weniger hitzköpfig. Kann man nach Vettels furiosem Start schon sagen, dass der „abgezocktere“ Rennfahrer nun ein rotes Auto hat?
Vettel ist große Klasse, daran gibt es keinerlei Zweifel. Er ist nicht nur ein schneller, sondern auch ein überaus intelligenter Fahrer mit dem richtigen und ganz wichtigen Racer-Instinkt. Und wer mit dem springenden Pferd unterwegs ist, dem darf gelegentlich auch mal der Gaul durchgehen, damit habe ich als interessierter Zuschauer kein Problem, ganz im Gegenteil.
Lewis Hamilton muss sich also Sorgen machen?
Nein, das glaube ich nicht. Sicher ist Hamilton an diesem Wochenende wieder der Favorit Nummer 1 auf den Sieg, er ist ein Ausnahmefahrer und fährt im insgesamt besten und erfolgreichsten Team.
Den Grand Prix in China hat Hamilton schon fünfmal gewonnen, Vettel erst einmal. Warum scheint Hamilton die Strecke so gut zu liegen?
Lewis Hamilton war auch 2007 – in seinem ersten Formel-1-Jahr bei uns – auf dem Weg, Shanghai zu gewinnen, hat dort dann aber doch noch einen wichtigen Sieg und damit den Gewinn der Weltmeisterschaft weggeschmissen. Das zeigt, wie nahe Triumph und Drama in der Formel 1 beieinander liegen. Hätten wir ihn beim Regenrennen damals eine Runde früher an die Box geholt, hätte er mittlerweile wohl fünf WM-Titel und sechs Siege in Shanghai auf seinem Konto.
Mercedes hatte gegenüber Ferrari im letzten Jahr Nachteile bei den Reifen, die bei heißen Temperaturen zu schnell überhitzten. Zeigt der Ferrari-Erfolg in Bahrain, dass die „Roten“ den „Silbernen“ in dieser Kategorie immer noch voraus sind?
Es gibt tatsächlich einige wenige Strecken und Randbedingungen – also Temperatur, Streckenführung, Kurvenradien – bei denen die Silberpfeile nicht so dominant sind wie auf anderen. Ohne Mercedes’ Rechenfehler in Australien, hätte Ferrari den Auftakt dort sicher nicht gewinnen können.
In Bahrain unterlief Ferrari allerdings ein völlig verpatzter Boxenstopp mit Kimi Räikönnen, der auch Vettels Optionen einschränkte. Trotzdem reichte es für Vettel zum Sieg.
Auch in Bahrain war der Silberpfeil-Sieg möglich. Man darf nicht vergessen, dass Hamilton nach seinem Getriebewechsel rückversetzt wurde und als Neunter aus Startreihe fünf startete. Er wurde trotzdem Dritter – keine sieben Sekunden hinter Sieger Vettel. Ein „normales“ Rennen mit einem Hamilton-Start aus Reihe eins hätte wohl ein anderes Ergebnis gebracht. Aber das soll Vettels und Ferraris grandiose Leistung in Bahrain keinesfalls schmälern.
Zuletzt wurde eine Budgetdeckelung von 150 Millionen US-Dollar pro Saison vom Rechteinhaber Liberty Media ins Spiel gebracht. Was halten Sie davon?
Dieses Thema ist so alt wie die Formel 1 der Neuzeit. Als wir 2010 unser Mercedes-Silberpfeil-Werksteam an den Start brachten, das 2012 erstmals gewann und seit 2014 je vier Titel in der Fahrer-und der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft in Folge holte, war unter den Teams verbindlich vereinbart worden, Budgets und Personalzahlen zu limitieren.
Aber?
Letzte Woche hat Formel-1-Sportchef Ross Brawn, der damals unser Teamchef war, ausgeführt, dass sich Ausgaben und Personalzahlen der Topteams in den letzten fünf Jahren verdoppelt bis verdreifacht haben.
Müsste man es also wagen, den „freien Wettbewerb“ wieder energischer zu reglementieren?
Ja, es muss eine Lösung zur drastischen Kostensenkung gefunden werden, sonst droht der Formel 1 ein Schicksal wie einst den Dinosauriern: Am größten, am stärksten – am „totesten“.
"Porsche hat die technischen Fähigkeiten"
Ein weiteres Thema, über das viele nicht glücklich sind: Überholen in der Formel 1 ist kaum noch möglich! Was muss sich ändern?
Die Rennwagen müssen aerodynamisch „entkompliziert“ werden. Schauen sie sich ein Rennen der Nachwuchsklasse Formel 4 an, dort wird bis auf einen Zentimeter – manchmal auch etwas weniger – an den Vordermann ran gefahren, bevor dieser überholt wird. Was dort ausgesprochen häufig passiert.
In der Formel 1 sorgen die Autos für so starke Luftverwirbelungen, dass der Hintermann keinen aerodynamischen Grip für ein Überholmanöver aufbauen kann. Man kommt also gar nicht nah genug an den Vordermann heran. Was tun?
Diese „Entkomplizierung“ ist leichter gesagt als getan. Sie erfordert Einigkeit vor der zukünftigen Festlegung der Reglements. Suchen Sie ein Iglu in der Sahara – da haben Sie höhere Chancen auf Erfolg, als Einigkeit zwischen zehn Formel-1-Teams, der Sportbehörde FIA und dem Rechteeigentümer Liberty Media zu schaffen.
Das gilt wohl auch für die Motorenfrage. Die aktuellen Modelle mit Turboaufladung und zwei Hybridsystemen sind innovativ, aber auch kompliziert und sehr teuer. Sie scheinen deshalb nur von Ferrari und Mercedes optimierbar. Braucht es also einfachere Motoren, damit auch Honda und Renault wieder zu einer ernsthaften Konkurrenz aufsteigen können?
Mercedes hat damals kooperiert und umgesetzt, was die Konkurrenten als Motorenformel wollten – allen voran Ferrari und Renault, die mit Ausstieg drohten, sollte es keinen Hybridmotor mit serienrelevanter Technik geben. Laut des gemeinsam verabschiedeten Plans sollte diese Technik ab 2013 eingesetzt werden. Auf Bitten der Konkurrenz wurde der Wechsel auf 2014 verschoben. Seither hat Mercedes alle Titel und die meisten Rennen gewonnen.
Kurz gesagt: Pech gehabt!
Jetzt das Rad zurückzudrehen und wieder einen simpleren Achtzylinder-Saugmotor mit herrlichem Sound – dank hoher Drehzahlen – zu bauen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das aktuell gültige Limit von drei Motoren pro Fahrzeug und Saison, das ja mit der Zielsetzung Kostensenkung eingeführt wurde, kostet deutlich mehr als früher 30 Saugmotoren pro Saison.
Ferrari und Mercedes gelten nicht unbedingt als reformwillig und drohen ab und an schon mal mit einem Ausstieg aus der Formel 1. Für wie realistisch halten Sie dieses Szenario?
Beide Werksteams haben sich Vorteile mit eigener Leistung erarbeitet. Diese freiwillig wegzugeben, fällt niemals leicht, das ist doch klar. Aber ohne Ferraris und Mercedes’ Zustimmung zu drastischen Veränderungen wird es wohl keine Formel 1 mehr geben, in der mehr als zwei, drei Teams gewinnen können.
Das war mal anders...
Ja, noch 2012: Da gab es bei den ersten sieben Rennen sieben verschiedene Sieger von fünf verschiedenen Teams. Und, wie Ross Brawn letzte Woche ausführte, hatten die Topteams damals die Hälfte oder weniger an jährlichem Budget zur Verfügung als heute.
Gelegentlich wird über potenzielle Neueinsteiger spekuliert, darunter Porsche. Welche Möglichkeiten hätten die Schwaben?
Porsche hat die technischen Fähigkeiten, in der Formel 1 konkurrenzfähig zu sein, ganz klar. Das Sport-Protoypen-Programm von Porsche in der Langstrecken-Weltmeisterschaft war technisch nicht weniger anspruchsvoll als die aktuelle Formel 1.
Red Bull hatte man vor der Saison auch als Mercedes-Konkurrent auf dem Schirm. Bislang enttäuscht das Team. Welche Gründe hat das?
Ich würde Red Bull Racing nie unterschätzen. Sollte der Regen am Samstag und Sonntag in Shanghai eine Rolle spielen, sind sie sowieso wieder mit von der Partie.
Bisher hatte Red Bull einfach Pech?
Wenn bei zwei Rennen unglücklich agiert wird, verliert man seine gute Grundform nur dann, wenn teamintern Schuldige gesucht werden und darüber hinaus vergessen wird, dass die Gegner außerhalb und nicht innerhalb der eigenen Mauern lauern.
Wer gewinnt dann am Sonntag?
Favorit sollte Hamilton sein, aber das habe ich auch vor den Rennen in Australien und Bahrain gesagt. Favorit sein heißt nicht immer gewinnen. Und genau diese nicht vorhersehbaren Rennergebnisse sind es, die die Formel 1 braucht, um wieder mehr Zuschauer zu begeistern. Zweimal hat das bei zwei aufeinanderfolgenden Rennen bereits geklappt – vielleicht gibt es am Sonntag ja das Triple.