PNN-Serie: Was aus den Willkommensschülern wurde: „Wissen ist für mich wie Essen“
Über die Willkommensklasse der Potsdamer DaVinci-Gesamtschule für Flüchtlinge haben die PNN schon oft berichtet. Nun wollten wir wissen, wie es für die Schüler danach weiterging. In einer neuen Serie stellen wir sie vor. Heute: Jian Antalat aus Syrien.
Potsdam - Jian ist eine, die viel zu sagen hat. Die 18-Jährige redet schnell und sie redet gern. Für sie muss es besonders schlimm gewesen sein, in ein Land zu kommen, in dem sie kein einziges Wort versteht und nichts sagen kann. „Ich habe mich gefühlt wie taubstumm“, erinnert sie sich an ihre ersten Tage in Deutschland. „Wenn ich einkaufen gegangen bin, habe ich immer große Scheine mitgenommen, weil ich nicht mal die Zahlen verstanden habe.“ Doch das sollte sich bald ändern.
Von Dresden nach Potsdam
Dresden war die erste Station von Jians Familie, die aus dem kurdischen Norden Syriens zunächst in die Türkei und später nach Deutschland floh. In Dresden lebte schon der Onkel, seit 30 Jahren bereits. Er unterschrieb eine Bürgschaft und ließ Jian, ihre Eltern und ihre drei Brüder bei sich in der Wohnung leben. Doch was zunächst nur als Zwischenlösung gedacht war, sollte ein Jahr lang dauern. Die Familie litt unter den beengten Verhältnissen und der unklaren Situation, vor allem Jian. „Meine älteren Brüder haben bei meinem Onkel im Restaurant gearbeitet, aber ich war die ganze Zeit zu Hause. Ich hatte keine Freunde, keine Schule, nichts.“ Auf dem Handy brachte sie sich selbst die ersten Worte auf Deutsch bei, schaute Youtube-Videos, um die Sprache zu lernen.
Erst als die Familie nach Potsdam zog, sollte sich für Jian alles zum Besseren wenden. Hier wohnte die Familie zwar das erste Jahr ebenfalls noch auf wenigen Quadratmetern und ohne Privatsphäre in einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge. Aber Jian konnte endlich zur Schule gehen. In der Willkommensklasse der DaVinci-Gesamtschule lernte sie Deutsch, traf auf andere Jugendliche, hatte wieder eine Aufgabe. „Wissen ist für mich wie Essen, wie Benzin zum Leben“, sagt sie. „Wissen macht das Leben schöner.“ Seit Ende 2016 hat die Familie auch endlich wieder ein eigenes zu Hause, von der Pro Potsdam mietet sie eine Wohnung in Zentrum-Ost.
Heute spricht sie nahezu fehlerfrei
Auch nach dem Wechsel in die Regelklasse – sie konnte auf der DaVinci-Schule bleiben – saugte Jian alles, was ihr geboten wurde, auf wie ein Schwamm. Auch wenn der Anfang gerade in Fächern wie Geschichte sehr schwer war, wie sie sagt. Nicht nur die Sprache machte ihr damals noch zu schaffen – heute spricht sie nahezu fehlerfrei – auch Vorwissen fehlte ihr. „Es ging um den Ersten und Zweiten Weltkrieg und ich habe vielleicht ein Prozent verstanden“, erinnert sie sich lachend. Um ihren Rückstand aufzuholen, setzte sie sich nach der Schule an den Computer und googelte die Begriffe. Oder sie sah sich Dokumentationen im Internet an. „Wenn ich mich dann am nächsten Tag melden und etwas sagen konnte, war ich glücklich.“
Überhaupt meldet sich Jian oft, wie sie sagt. Sie zeigt gern, wenn sie etwas weiß, ist ehrgeizig, will gute Zensuren haben. „Durch mündliche Noten kann ich meine schriftliche Note ausbessern“, sagt sie. Denn obwohl sie sehr gut, flüssig und schnell spricht: beim Schreiben hat sie gegenüber ihren deutschen Mitschülern immer noch einen Nachteil. „Schriftliche Prüfungen sind für mich schwierig, weil ich länger zum Schreiben brauche und dann zum Beispiel keine Zeit mehr habe, alles noch mal durchzulesen“, sagt sie. „Ich brauche oft auch länger, um einen Text zu verstehen, weil ich noch manche Vokabeln nachschauen muss.“
"Wir mussten in Syrien mehr auswendig lernen"
Nach den Unterschieden zwischen Schulunterricht in Deutschland und Syrien gefragt, muss Jian kurz nachdenken. Prinzipiell sei es dort recht ähnlich, sagt sie. Etwas fällt ihr dann doch ein: „Wir mussten in Syrien mehr auswendig lernen, aber wir hatten keinen Überblick über die Themen“, sagt sie. „Das war ein bisschen wie copy und paste. Nach der Prüfung habe ich alles wieder vergessen.“ Was sie allerdings besser fand: Dass dort der Unterricht bis maximal 14 Uhr ging, hier in Potsdam ist sie oft noch länger in der Schule. Einmal die Woche besucht sie dann auch noch eine ältere Dame, die ihr mit den Hausaufgaben hilft. Ihre Deutschlehrerin hat den Kontakt hergestellt. „Sie hat ein Diplom“, sagt Jian bewundernd. „Sie hat das Leben richtig verstanden.“
In der neuen Klasse sei sie sehr gut von ihren Mitschülern aufgenommen worden, sagt Jian. Auch wenn sie älter als die meisten ist, durch die Flucht hat sie einige Jahre verloren. Aber sie fühlt sich wohl, hat Freunde gefunden. Sie sei die einzige in der Klasse, die einen Migrationshintergrund habe, sagt Jian. „Das finde ich gut, weil so bin ich gezwungen, Deutsch zu reden. Und wahrscheinlich bekomme ich so auch mehr Unterstützung, als wenn mehrere Ausländer da wären.“
Momentan besucht Jian die 12. Klasse, nächstes Jahr steht das Abitur an. Ob sie das machen wird? „Na klar“, sagt sie fast entrüstet. Anschließend will sie Medizin studieren, Augenärztin ist ihr Traumberuf. „Die Augen sind wichtig, mit ihnen sehen wir das Leben.“
Die nächste Folge erscheint am Donnerstag. Dann stellen wir Mansour Ndiaye aus dem Senegal vor.
Hintergrund: Willkommensklassen in Potsdam
An 31 Potsdamer Schulen in öffentlicher Trägerschaft gibt es Willkommensklassen – die offiziell Vorbereitungsgruppen beziehungsweise Förderkurse heißen. Besucht werden sie laut Brandenburger Bildungsministerium im aktuellen Schuljahr von 997 Kindern und Jugendlichen, zumindest war dies am Stichtag, dem 20. August 2018, der Fall. Die altersgemischten Willkommensklassen sollen vor allem dazu dienen, Kindern aus dem Ausland erste Deutschkenntnisse beizubringen. Eingerichtet wurden sie, als 2015 die Zahl der Flüchtlinge stark anstieg. Doch nicht nur Kinder aus Syrien oder Afghanistan sitzen heute in den Potsdamer Willkommensklassen, auch Schüler aus Polen oder Indien. Von der ersten bis zur dritten Jahrgangsstufe besuchen sie in der Regel ein halbes Jahr lang die Willkommensklasse, ab der vierten Jahrgangsstufe ein Jahr lang. Dann wechseln die Kinder je nach Ankunftsdatum zum Halb- oder zum Schuljahr in die Regelklasse – was oft mit einigen Problemen verbunden ist. Die meisten Kinder haben zwar schon vor ihrer Ankunft in Deutschland in ihrer Heimat eine Schule besucht, viele müssen aber nicht nur Deutsch, sondern auch die lateinische Schrift lernen oder ganz allgemein mit dem deutschen Schulsystem vertraut gemacht werden.