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Flüchtlinge in Potsdam: Ankommen in fünf Willkommensklassen

124 Kinder besuchen derzeit fünf Willkommenklassen in Potsdam. Zum Beispiel in der Da-Vinci-Gesamtschule und der Weidenhof-Grundschule. Zum Anfang geht es vor allem darum, erst einmal anzukommen.

Potsdam - Heute sind Kleidungsstücke dran. Was ist der Unterschied zwischen Strumpfhose und Unterhose? Was unterscheidet Handschuhe von Fäustlingen? In Grüppchen sitzen die Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan, Albanien oder Tschetschenien im Klassenzimmer und beugen sich über das Übungsblatt mit den aufgemalten Anziehsachen. Sie alle besuchen die Willkommensklasse der Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule in Potsdam-West, eine Klasse speziell für Schüler ohne Deutschkenntnisse. Seit die Flüchtlingszahlen explodieren, sind auch die Willkommensklassen gewachsen. 124 Schüler verteilen sich in Potsdam auf fünf Klassen: drei an weiterführenden Schulen, zwei an Grundschulen.

An der Da-Vinci-Schule sind es momentan 21 Schüler – so viele wie noch nie, sagt Lehrerin Kerstin Richter. Eigentlich gelte die Obergrenze von 13 Schülern, aber das sei in der jetzigen Situation nicht mehr zu halten. Zwölf bis 17 Jahre alt sind die Jugendlichen, mit unterschiedlichsten Deutschkenntnissen. Da ist schon mal eine Pantomimeeinlage von der Lehrerin gefragt – oder ihre Zeichenkünste. Gerade malt Kerstin Richter an die Tafel einen Badeanzug für ihre „Willis“, wie sie ihre Willkommensschüler nennt.

Bessere Situation in Potsdam

Zu den besten Schülern der Klasse gehört Jasmin, die 15-Jährige ist seit Februar dabei. Vor einem Jahr ist sie mit ihrer Familie aus Syrien geflohen, eine Bombe hat ihr Haus zerstört. Nach Monaten in der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt lebt sie nun im Staudenhof. Ein einziges Zimmer teilt sie sich mit ihrer Mutter und den beiden Brüdern, aber trotzdem findet sie es hier besser als in Eisenhüttenstadt. Das findet auch Jian. „Die Menschen dort mögen keine Ausländer“, sagt die 17-Jährige. In Potsdam sei es viel besser. Sie wohnt mit ihren drei Brüdern und der Mutter in der Flüchtlingsunterkunft in der Dortustraße, zur Da-Vinci-Schule fährt sie mit dem Rad. In Syrien mache das niemand, erzählt sie, erst recht kein Mädchen. Zwei Monate erst ist Jian in der Willkommensklasse, aber auch sie spricht sehr gut Deutsch. „Ich habe schon vorher im Internet Deutsch gelernt“, sagt sie. „Mit Videos.“ Sie will so schnell wie möglich in eine normale Klasse und Abitur machen – am liebsten an der Da-Vinci-Schule, schließlich hat sie hier schon Freunde.

Auch die zehn Kinder an der Weidenhof-Grundschule am Schlaatz, die dort die Willkommensklasse besuchen, haben in den ersten Wochen schon viel gelernt. Sie können einfache Sätze bilden, sich vorstellen oder bis 100 zählen. Auch dort steht der Spracherwerb an erster Stelle, wie Lehrerin Yvonne Albricht erzählt. „Aber wir gehen auch zusammen in den Supermarkt oder die Verkehrszeichen lernen.“ Gerade den Umgang mit Geld zu lernen, sei sehr wichtig für die Schüler. Am Anfang ginge es aber auch einfach darum, erst mal anzukommen. „Viele haben Traumatisches erlebt und hier auch erfahren, dass Lernen Spaß macht“, sagt Albricht. Insgesamt besuchen 47 Flüchtlingskinder die Weidenhof-Grundschule, in der Willkommensklasse werden allerdings nur Schüler der vierten bis sechsten Klasse betreut. Die jüngeren Kinder werden in reguläre Klassen aufgeteilt.

Familiäre Stimmung in den Willkommensklassen

Meistens nach einem Jahr wechseln die ausländischen Kinder von der Willkommens- in die Regelklasse. Bis dahin sollen sie sich nicht nur auf Deutsch verständigen können, sondern auch zum Beispiel in Mathematik ein bestimmtes Niveau erreicht haben. An der Da-Vinci-Gesamtschule werden die Lehrer von mehreren Lernassistenten unterstützt, unter ihnen Hanna Freundt und Tino Fischer. Die 23-Jährige und der 26-Jährige sind Lehramtsstudenten und arbeiten nebenbei in der Willkommensklasse. Sie helfen den Schülern bei den Aufgaben oder betreuen auch mal eine Gruppe separat, wenn die Klasse aufgeteilt wird. Die Stimmung in der Willkommensklasse gefällt den beiden, es geht familiär zu, die Kinder sind motiviert, helfen sich gegenseitig und sind – gerade für das Alter – extrem offen gegenüber Neuem. Schwierig werde es, wenn die Kinder über ihre Flucht sprechen oder die Situation im Wohnheim, sagt Fischer. „Das können wir uns natürlich gar nicht vorstellen.“

Auch Kerstin Richter gehen die Geschichten oft nahe. Zum Beispiel wenn Jasmin von den Nierentabletten erzählt, die sie nehmen muss, seit sie auf der Flucht mit einem Boot verunreinigtes Wasser getrunken hat, um nicht zu verdursten. Kerstin Richter würde sich für manchen ihrer Schüler psychologische Unterstützung wünschen, doch noch gibt es so etwas nicht. Sie selbst hat eine Mediationsausbildung, das hilft ihr, wie sie selbst sagt. Bald besucht sie auch eine Fortbildung zum Thema Traumatisierung.

Große Alters- und Wissensunterschiede

Ob der Unterricht anders als in einer „normalen“ Klasse ist? „Improvisieren muss man können, aber das ist ja eigentlich immer so.“ Der große Altersunterschied sei weniger das Problem, sehr wohl allerdings der große Wissensunterschied. „Wir haben hier alles, vom Abc-Schützen bis zum potenziellen Abiturienten.“ Im Klassenzimmer sollen die Da-Vinci-Schüler jetzt noch einmal wiederholen, was sie schon können – nämlich die Vorstellung. Name, Alter, Herkunft, das klappt schon fast einwandfrei. Was sie mögen? Jasmin mag Zeichnen, sagt sie. Die Jungs fast alle Sport. „Und ich mag Sie“, sagt ein syrischer Junge lächelnd. Er meint damit seine Lehrerin. (mit Henri Kramer)

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