BVB/Freie Wähler zur Kommunalwahl: "Unternehmer dürften nicht in der Stadtverordnetenversammlung sitzen"
Irene Kamenz, Stadtverordnete und Kreissprecherin von BVB/Freie Wähler, zieht im PNN-Interview Bilanz, spricht über ihre Ziele und Ideen für das Stadtparlament.
Frau Kamenz, Sie sitzen seit 2014 im Stadtparlament. Ich habe mal nachgezählt: Sie haben seitdem nur drei Anträge eingebracht und zwei kleine Anfragen gestellt. Warum war so wenig von Ihnen zu hören?
Das kann ich Ihnen ganz einfach beantworten. Ich bin damals in die Politik reingerutscht, habe nicht damit gerechnet, ein Mandat zu bekommen. Und als ich es bekam, war es natürlich erst einmal schwierig als Einzelkämpfer. Ich habe von Anfang an gesagt: Ehe ich zu irgendeinem Thema den Mund aufmache, muss ich zuerst einen Plan haben. Es hat jetzt zwei, zweieinhalb Jahre gebraucht, um überhaupt in die Themen reinzukommen. Ich bin im Jugendhilfeausschuss, da sind so viele Kitaträger vertreten, es gibt viele Paragrafen. Das konnte ich alles nicht wissen. Deshalb diese Zurückhaltung.
Sie waren erst mit Peter Schultheiß von den Potsdamer Demokraten in einer Fraktion.
Das funktionierte aus meiner Sicht nicht. Dann sind verschiedene andere Parteien auf mich zugekommen, die mich haben wollten.
Sie sind letztlich in der Fraktion mit FDP und Bürgerbündnis gelandet.
Beim Bürgerbündnis habe ich angenommen, das passt irgendwie. Aber von Wohlfühlen ist keine Rede mehr.
Inwiefern?
Ich habe dort die Erfahrung gemacht, dass es vorrangig um private Belange geht, die durchgedrückt werden sollen. In der Fraktion fehlte mir die Unterstützung und ich bin auf Gegenwehr gestoßen. Eigentlich hatte ich viele andere Anträge im Kopf.
Zum Beispiel?
Was ich jetzt auch im Wahlprogramm habe: die Abschaffung der Grundsteuer B oder wenigstens die Abschaffung der Umlage dieser Steuer auf den Mieter. Ich bin der Meinung, gerade private Wohnungsbauunternehmen, wie sie auch in der Fraktion sitzen…
Sie meinen Ihren Fraktionskollegen, den Bauträgerunternehmer Wolfhard Kirsch vom Bürgerbündnis.
… sollten für ihren Besitz genauso Steuern zahlen wie jeder einzelne Eigenheimbesitzer. Sie werden durch die Möglichkeit der Umlage auf den Mieter immer reicher und die Schwachen immer schwächer. Bezahlbares Wohnen wird damit nicht gefördert.
Mit dem Bürgerbündnis wollen Sie also nicht mehr zusammenarbeiten?
Das wird garantiert nicht wieder passieren. Wir streben an, in Fraktionsstärke in die nächste Stadtverordnetenversammlung einzuziehen.
Dafür bräuchten Sie mindestens zwei Sitze. 2014 haben sie 0,9 Prozent der Wählerstimmen geholt. Was ist das Ziel für den 26. Mai?
Ich hoffe auf drei Prozent. Damals waren wir noch ganz neu und uns kannte keiner. Wir sind jetzt aktiver und unsere Themen sind bekannt.
Was war Ihr größter Erfolg in den letzten fünf Jahren im Stadtparlament?
Meine Anträge sind ja nicht durchgegangen, die wurden abgeschmettert.
Ihre beiden Anträge zum Nahverkehr sind doch noch im Geschäftsgang. Da geht es darum, dass Rentner, die ihren Führerschein freiwillig abgeben, ein kostenloses Jahresticket vom ViP bekommen und darum, dass erwerbsgeminderte Rentner den Altersrentnern beim ViP-Abo gleichgestellt werden...
Die sind aber mit anderen Anträgen zum ÖPNV in einen Pool gegeben worden. Da bin ich total frustriert, weil meine Fraktion nicht mit mir Rücksprache gehalten hat. Beide Anträge haben nichts mit dem Bürgerticket zu tun. In einem geht es um Gleichstellung und in dem anderen, den Autoverkehr zu reduzieren.
Hatten Sie denn gar kein Erfolgserlebnis in den letzten fünf Jahren?
Doch. Dass ich von außen, auch aus anderen Fraktionen mitgeteilt bekomme, dass ich doch ein sehr normaler und sozialer Mensch bin, ich eben nur in der verkehrten Fraktion sitze und in einer größeren Fraktion mehr Rückhalt hätte. Es bestärkt mich darin, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Wieso haben Sie denn dann nicht die Fraktion gewechselt?
Das sagt sich so einfach, aber das ist nicht mein Ding. Jetzt steht in den Anträgen immer „Bürgerbündnis/FDP Irene Kamenz“. Ich bin aber weder Bürgerbündnis noch FDP. BVB/Freie Wähler wird nicht genannt. Das ärgert mich.
Was war rückblickend Ihr größter Fehler in der Stadtpolitik?
Dass ich dieser Fraktion beigetreten bin.
Was sind Akzente, die Sie in Zukunft setzen möchten?
Ich möchte mehr Offenheit in der Stadtverordnetenversammlung, mehr Ehrlichkeit. Dass bei wirklich wichtigen Themen nicht zu große Debatten geführt werden. Die Stimmabgabe in der Stadtverordnetenversammlung finde ich nicht gerecht.
Was meinen Sie?
Das ist eine Vision von mir. Die Fraktionen kennen die Tagesordnung von der Stadtverordnetenversammlung und allen Ausschüssen, sie sitzen ja auch im Vorfeld zusammen und diskutieren darüber. Da sollte sich die Fraktion dann auch einig sein: „Sind wir dafür oder dagegen.“ So dass es ein ausgewogenes Gleichgewicht gibt für alle Wähler. Jetzt haben wir ja 56 Stadtverordnete und jeder darf eine Stimme abgeben. Ich bin der Meinung, es gibt eine bestimmte Anzahl Fraktionen und dann haben wir nachher eben auch nur noch sieben oder acht Stimmen.
Sie wollen, dass jede Fraktion nur eine Stimme bekommt?
Genau.
Das würde eine Änderung der Kommunalverfassung voraussetzen.
Ich fände es für alle Wähler gerechter.
Dann würden aber kleine Parteien oder Wählergruppen überproportional viel Gewicht bekommen.
Aber so, wie es jetzt ist, bleiben die Wähler der kleinen Parteien und Wählergemeinschaften auf der Strecke.
Dahinter stehen ja auch weniger Wähler. Wenn sie entsprechend mehr Stimmen holen, würde sich das ändern.
Es ist ja nicht so, dass ich nur für meine Wähler da bin. Ich stehe für die Schwächsten aller Wählergruppen in Potsdam. Für die Kinder, die Jugendlichen, die Geflüchteten, die Senioren, für die, die total abgehängt sind, die dieses Land aufgebaut haben und heute Grundsicherung beantragen müssen. Deswegen engagiere ich mich auch bei der Potsdamer Tafel. Ich bin der Meinung, im Stadtparlament müssten nicht so viele sitzen. Genauso, wie im Bundestag. Das sind alles Steuergelder, die draufgehen. Und wenn es nachher bloß die Hälfte der Stadtverordneten wären...
Sie wollen die Stadtverordnetenversammlung verkleinern!?
Nein, aber es wäre eine Option. Ich bin ein Gerechtigkeitsmensch und möchte Geld sparen und bin gegen eine Verschwendung von Steuergeldern.
Welches Herzensprojekt für Potsdam haben Sie sich vorgenommen?
Ich möchte Begegnungsstätten in den eingemeindeten Ortschaften und zwar gleich verteilt: Es soll in jeder eingemeindeten Ortschaft für Senioren einen Anlaufpunkt geben, so dass sie nicht diese weiten Wege in die Stadt haben. Das sehe ich in Golm, wir haben so etwas nicht. Klar könnten die Senioren irgendwo in der Stadt teilnehmen, aber ich möchte, dass es gerecht verteilt ist. Es ist mir wichtig, dass die Infrastruktur in allen Stadtteilen stimmt. Wenn wir jetzt hören, wir haben nicht einmal einen Kinderarzt im Schlaatz, das geht nicht.
Darauf hat die Stadt aber keinen Einfluss. Darüber entscheidet die Kassenärztliche Vereinigung.
Ja, ich weiß. Aber ich bin eben der Meinung, diese Ballungsgebiete werden vernachlässigt und denke, dass die Stadt Einfluss auf den Sitz der Ärzte haben könnte.
Was wird mit Ihnen garantiert nicht passieren in Potsdam?
Ich werde mich keiner Fraktion anschließen, in der privater Reichtum im Vordergrund steht. Private Unternehmer, alle die, die in Abhängigkeit zur Stadt stehen, dürften nicht mehr kandidieren.
Sie meinen wieder Ihren Fraktionskollegen Herrn Kirsch?
Es gibt auch viele andere Branchen. Sie dürften nicht in der Stadtverordnetenversammlung sitzen und schon gar nicht im entsprechenden Ausschuss.
Ein Politikverbot gegenüber bestimmten Bürgern?
Ja.
Das wollen Sie?
Sie können ja Politik machen, aber dürften keine Entscheidungsträger mehr sein.
In Ihrem Wahlprogramm heißt es: „In Abhängigkeit zur Stadtverwaltung stehende Kommunalpolitiker dürfen keine Ausschüsse besetzen“. Letztlich sind doch alle Potsdamer von Entscheidungen der Stadt abhängig – als Eltern zum Beispiel, die Kitabeiträge bezahlen.
Darum geht es mir nicht. Es geht zum Beispiel um Unternehmer, die einen Wohnpark errichten. Dafür gibt es einen Bebauungsplan, die Stadt stellt finanzielle Forderungen für Neuaufforstung in anderen Gebieten, für den Bau von Kitas und so weiter. Diese Unternehmer sind bestrebt, so wenig wie möglich bezahlen zu müssen. Sie sind auf sehr viel Profit aus und werden dann auch als Mandats- und somit Entscheidungsträger alles daran setzen, ihre Interessen durchzusetzen.
Ein anderer Punkt in Ihrem Wahlprogramm ist mehr Bürgerbeteiligung. Es gibt da schon einiges in Potsdam: Bürgerhaushalt, jetzt soll das Bürgerbudget mit Geld kommen, es gibt Stadtspaziergänge und die Oberbürgermeistersprechstunde. Welche weiteren Beteiligungsformen stellen Sie sich vor?
Jeder Bürger hat das Recht in die Stadtverordnetenversammlung zu kommen. Das ist aber nicht für alle möglich. Es muss selbstverständlich sein, dass es - auch in den Ausschüssen - einen Gebärdendolmetscher gibt. Ich selbst als schwer Hörgeschädigte habe sogar mit Hörgerät manchmal ein Problem, zu folgen. Und was Radwege angeht, da sollten nicht nur die Ortsbeiräte, sondern auch mehr die Bürger beteiligt werden.
Wie meinen Sie das?
Zum Beispiel bei uns in Golm: Ich bin frustriert, wenn ich höre, dass dort ein Solarradweg beantragt wird. Da sage ich: Meine Güte, bleibt doch mal auf dem Teppich! Fragt doch mal die Leute, die auf dieser Strecke unterwegs sind. Es würde ein ganz normaler, sicherer Radweg reichen, es muss nicht der teuerste sein. Und wenn der Ortsbeirat dann diesen Antrag stellt, dann ist es auch nachvollziehbar, dass die Stadt sagt: Kommt gar nicht in Frage.
Aber zum Ortsbeirat können Sie als Golmerin doch hingehen und Ihre Meinung kundtun.
Ja, natürlich. Da wird dann gesagt: Wir beantragen einen Radweg, aber in welcher Form, das wird nicht besprochen. Da ärgere ich mich natürlich drüber.
Sie haben das Gefühl, da wird nicht mit offenen Karten gespielt?
Ja. Da gibt es Visionen, die mit den Bürgern nicht so besprochen werden. Ich finde, alles, was die Stadt beziehungsweise die Potsdamer Bevölkerung betrifft, sollte mehr hinterfragt werden. Ein anderes Beispiel ist die Seniorenbefragung der Stadt. Da hieß es: Senioren über 65 Jahre sind zu über 80 Prozent zufrieden. Wenn man dann nachfragt, wie viele Senioren an dieser Umfrage beteiligt waren, heißt es: zirka 500 Senioren. Von 32.500!? Da sage ich: Kommt doch einfach mal eine Woche an die Potsdamer Tafel, da haben Sie mehr Senioren, die nicht zufrieden sind. Das meine ich! Da muss mehr Bürgerbefragung stattfinden.
Politik erreicht nicht mehr alle Bevölkerungsschichten?
Genau. Ich habe diese Not als Helferin bei der Potsdamer Tafel jede Woche vor Augen und bin mit den Leuten im Gespräch. Wenn ich höre, warum sie in diese Situation gekommen sind, Grundsicherung zu beantragen und auf die Tafel angewiesen sind, da kriege ich einen dicken Hals. Wir müssen in jede Schicht gucken und alles beleuchten. Und da macht die Politik die Augen zu.
Was wäre Ihr Ansatz, das zu ändern?
Jeder Stadtverordnete müsste verpflichtet werden, wenigstens eine Woche in einer Einrichtung zu arbeiten, die ausschließlich durch Ehrenamtliche ohne Vergütung geführt wird, um die Arbeit dieser zu sehen und sie dementsprechend wertzuschätzen. Das würde die Mandatsträger bewegen, ihre Entscheidungen aus eigener Erfahrung zu treffen.
Sie treten bei der Kommunalwahl gemeinsam mit Andreas Menzel an. Das ist kein Unbekannter, aus der Potsdamer Grünen-Fraktion ist er nach heftigem Streit rausgeflogen. Was schätzen Sie an Herrn Menzel?
Er hat politische Erfahrung, gute Pläne, er bleibt immer dran, hakt immer nach. Aber er ist mir manchmal auch zu krass, wie er verbal an die Sache herangeht – mit dem Hammer rein.
Sie glauben, das kann trotzdem funktionieren mit Ihnen?
Funktionieren könnte das schon. Ich denke, ich müsste von vornherein Grenzen setzen, was den Umgang angeht. Ich bin eher der ruhige Mensch. Herr Menzel müsste in seiner Art und Kommunikation einen Schritt zurücktreten.
Mit wem können Sie sich eine Koalition vorstellen?
Die Linke.
Warum?
Weil sie nach meinen Erfahrungen aus den letzten fünf Jahren noch am sozialsten sind.
Aber Sie wollen nicht zur Linken wechseln?
Nein. Ich möchte frei im Geiste und in meinen Entscheidungen bleiben.
Was Radwege angeht, sollten nicht nur die Ortsbeiräte, sondern auch mehr die Bürger beteiligt werden.
Irene Kamenz