Frust über Landesregelung: Potsdamer Eltern leiden unter den Coronalockerungen
Die ersten Einschränkungen fallen, das führt zu Problemen bei der Kinderbetreuung in Potsdam. Paradoxerweise nutzt ein Großteil der Berechtigten das Angebot gar nicht.
Potsdam - Bis vergangene Woche war die Welt für Melanie Heuchling noch einigermaßen in Ordnung. Ihr Mann Christoph war zu Hause, konnte von der Betreuung ihrer zwei Kinder einen Großteil übernehmen, weil er als Lehrer während der Schulschließungen daheim arbeitete. Das verschaffte ihr die nötige Luft für ihre Tätigkeit als Kundenservice-Mitarbeiterin eines kleinen mittelständischen Unternehmens im Wissenschaftspark Golm. Die beiden 37-Jährigen hatten ihr Leben in der Coronakrise wie viele andere Eltern auch geregelt, so gut es eben ging.
Damit ist es nun vorbei. Denn die ersten Lockerungen stellt die Familie aus Golm vor ein ernsthaftes Problem. Christoph Heuchling muss seit letzter Woche wieder an seiner Schule in Berlin-Steglitz unterrichten, es besteht Anwesenheitspflicht. Melanie Heuchling muss nun Kinderbetreuung und Job parallel stemmen, die Grenze ihrer Belastbarkeit ist bereits überschritten. „Ich muss sehr viel mit Kunden telefonieren, das ist wie in einem kleinen Callcenter“, beschreibt sie den PNN ihre Situation. Von 6.45 Uhr bis 8.30 Uhr fährt sie nun ins Büro, danach löst sie ihren Mann ab, der dann zur Schule fährt. Wenn er gegen 16 Uhr nach Hause kommt, fährt sie wiederum für vier oder fünf Stunden ins Büro.
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Die Familie hat Anspruch auf Notbetreuung
Theoretisch haben die Heuchlings sogar Anspruch auf eine Notbetreuung, denn beide arbeiten in systemrelevanten Berufen. Er als Lehrer und sie als Angestellte eines Unternehmens, das die Trinkwasserqualität prüft und daher für die Gesellschaft wichtig ist. Die Praxis sieht allerdings anders aus. Zwar wurde der Antrag auf Notbetreuung bewilligt, aber der Hort in Eiche, den ihre beiden Söhne, die in der 1. und 4. Klasse sind, nach dem Unterricht normalerweise besuchen, hat abgewinkt: Alle Plätze sind bereits belegt. Als man sich an die Stadt wandte, sei nur eine Standard-E-Mail gekommen, erzählt Melanie Heuchling. Man wisse um das Problem und arbeite an einer Lösung.
Wie viele Eltern fühlen sich die Heuchlings mit ihren Nöten allein gelassen, vor allem vom Land. Als am vergangenen Freitag die Lockerungen für Brandenburg verkündet wurden, sei sie „sehr ernüchtert“ gewesen, sagt die 37-Jährige. Zwar hat das Land wie berichtet angekündigt, dass die Notbetreuung ab dem 18. Mai ausgeweitet werden soll – allerdings sind nach wie vor nur systemrelevante Berufsgruppen anspruchsberechtigt.
Elternbeirat will den Druck aufs Land erhöhen
Viele Eltern stellt das vor Probleme, wie auch Robert Witzsche, Vorstand des Potsdamer Kita-Elternbeirats, bestätigt. „Viele Eltern fragen sich, wie es jetzt weitergehen soll“, sagt er. „Der Frust in Richtung Land ist groß.“ Man wolle den heutigen Dienstag noch abwarten und danach wenn nötig, „den Druck erhöhen“. Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) will heute einen Fahrplan für die weitere Schulöffnung im Land vorstellen, womöglich wird dann auch die Kinderbetreuung noch einmal anders geregelt. Witzsche verwies auf Beispiele aus anderen Bundesländern, die viel weiter seien. In Sachsen etwa gilt ab dem 18. Mai ein eingeschränkter Regelbetrieb bei der Kitabetreuung. Dort wird dann nicht mehr nach dem Job der Eltern unterschieden, sondern nach den unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln verfügbaren Kapazitäten und individuellen Notlagen.
Anfragen besorgter Eltern häufen sich
Im Potsdamer Rathaus hat man die Sorgen der Eltern ebenfalls im Blick. Auch Jugenddezernentin Noosha Aubel (parteilos) ist mit den Lockerungsregeln des Landes wie berichtet unzufrieden. Die Anfragen besorgter Eltern, die in der Hotellerie, Gastronomie oder im Einzelhandel tätig sind, in Branchen also, in denen die Beschränkungen jetzt oder in wenigen Tagen gelockert werden, häuften sich, sagte Aubel am Montag den PNN.
Erstaunlicherweise ist die statistische Lage, was die Notbetreuung in Potsdam angeht, sogar entspannt. 5700 Plätze stehen laut Aubel insgesamt zur Verfügung, 1200 im Krippenbereich, 2700 in der Kita und 1700 im Hort. Der Rest verteilt sich auf alternative Angebote, etwa in der Tagespflege. Demgegenüber stehen 5026 Anträge von Eltern, die auch bewilligt wurden.
Nur 3000 von 5700 Plätzen sind belegt
Tatsächlich belegt sind aber nur knapp 3000 dieser Plätze. Das könnte zum Teil daran liegen, dass es Stadtteile gibt, in denen mehr Eltern lebten, die systemrelevante Berufe ausüben und deren Kinder daher Anspruch auf Notbetreuung haben, so Aubel. Die Einrichtungen vor Ort seien dann voll, während die Eltern dann lieber versuchten, ihre Kinder selbst zu betreuen anstatt sie in eine Einrichtung zu geben, die sie nicht kennen.
Es gibt aber noch eine andere Erklärung. Denn aus Angst, später keinen Platz mehr zu bekommen, haben offenbar viele Eltern Notbetreuung beantragt und bewilligt bekommen, nutzen sie aber kaum oder gar nicht. In den sieben Kitas und einem Hort des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks (EJF) in Potsdam zum Beispiel nähmen „mehr als 50 Prozent der Eltern die Notbetreuung nicht oder nicht in vollem Umfang wahr“, berichtet die zuständige EJF-Bereichsleiterin Lisa Lorenz. Manche Kinder kämen zweimal pro Woche, andere nur dreimal im Monat. Die Erzieher stelle das vor enorme Herausforderungen. Und es führt auch zu absurden Situationen. Mitunter, so Lorenz, komme es vor, dass in einer Krippen- oder Kitagruppe nur ein Kind anwesend sei. Da die Gruppen und das zuständige Personal wegen des Coronavirus nicht gemischt werden dürfen, kümmere sich die Erzieherin dann nur um dieses Kind, während andere Gruppen voll sind und zusätzliche Mitarbeiter gut gebrauchen könnten.
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Stadt fragt derzeit Kapazitäten ab
Gut 1000 Kinder werden in den Potsdamer EJF-Einrichtungen normalerweise betreut, aktuell sind es noch 300. Wie viele Plätze in ganz Potsdam ab dem 18. Mai dazukommen, wenn die erweiterte Notbetreuung greift, ist noch unklar. Man frage gerade die Träger nach den Kapazitäten ab, sagte Aubel. Fest steht bislang nur, dass die Gruppen größer werden. In der Krippe dürfen laut Landesverordnung künftig sechs statt fünf Kinder in einer Gruppe sein, in der Kita sind es zehn statt sieben, im Hort 15 statt sieben. Sollte Brandenburg noch umschwenken und ebenfalls einen eingeschränkten Regelbetrieb ermöglichen, führt das womöglich aber wieder zu einem neuen Problem. Denn 16 Prozent der Potsdamer Erzieher zählten zur Risikogruppe, weil sie Vorerkrankungen hatten, so Aubel. Die müssten dann irgendwie kompensiert werden.
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