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Wer darf mitreden? Die Cancel Culture gewährt Sprechlizenzen und erteilt Redeverbote.
© Getty Images/iStockphoto

Identitätspolitik: Wir leben davon, dass ihr euch schämt

Einspruch von links: Bernd Stegemann legt sich mit der identitätspolitischen Linken und der Cancel Culture an.

Das Unbehagen wächst, und es wächst allenthalben. Man muss längst nicht mehr die politische Seite wechseln, um die inquisitorischen Praktiken der kulturellen Linken als selbstgerechte Inszenierung zu erleben. Zornige Feministinnen wie die Pariser Publizistin und Filmemacherin Caroline Fourest hadern mit einer „Generation Beleidigt“ (Edition Tiamat), die universalistische Forderungen nach Gleichstellung und Gerechtigkeit an Geschlecht und Hautfarbe derjenigen knüpfen, die sie vortragen. Und sie rauft sich die Haare über die „neue Gotteslästerung“, derer sich noch die harmloseste Form „kultureller Aneignung“ bezichtigen lassen muss.

Fourests aus dezidiert französischer Perspektive geschriebener Essay mit dem Untertitel „Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“ ist vielleicht das Temperamentvollste, das man zu diesem Thema in diesen aufgeheizten Zeiten lesen kann.

Systemtheoretisch heruntergekühlt, wild entschlossen zur Abstraktion und mit ganz anders schreckgeweiteten Augen nimmt Bernd Stegemann, Professor für Theatergeschichte an der Berliner Hochschule Ernst Busch und Mitinitiator der linken Sammelbewegung Aufstehen, gleich die gesamte Epoche in den Blick.

Kollaps des Planeten

Den Kollaps einer Politik, die – Fleisch vom Fleische des Sozialismus – mit Klassengegensätzen nichts mehr anzufangen weiß. Den Kollaps einer Öffentlichkeit, die sich in moralisierenden Glaubensscharmützeln verliert. Aber auch den drohenden Kollaps des Planeten im Zeitalter des Anthropozän.

[Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 384 Seiten, 22 €.]

„Nur der kleinste Teil der spätmodernen Öffentlichkeit beschäftigt sich noch mit ernsthaften Fragestellungen, die in deliberativ verantwortungsvollen Diskursen behandelt werden“, klagt Stegemann und erklärt, warum auch Greta Thunberg und die Fridays for Future daran scheitern müssen. Stattdessen würden die Wogen über den Themen Race und Gender doppelt hoch zusammenschlagen, ohne dass die gesellschaftlichen Fundamente erreicht würden. Die Wokeness suche „aktiv nach den Ereignissen, über die sie sich selbst empört in Szene setzen kann. Es geht ihr nicht um die Verbesserung, sondern um den Skandal, der ihren öffentlichen Wert steigert, indem er andere beschämt“.

So entstehe eine Cancel Culture, die sich für ihn nicht mit einzelnen Auftrittsverboten verbindet, sondern mit einem „toxischen Umbau der Öffentlichkeit“ als ganzer. „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ ist das Buch der Stunde – zumal es die Grabenkämpfe einer identitätspolitisch übersteuerten Linken mit einer „politischen Ökologie“ zu überwinden hofft, die sich von Klimapopulismus und symbolpolitischer Selbstberuhigung fernhält. Zugleich wirkt es in seiner Abrechnung mit allem, was auch nur nach Postmoderne riecht, aus der Zeit gefallen.

Stegemann verwendet ein marxistisch getöntes, historisch-materialistisches Vokabular, das von der Entfremdung des Menschen im Spätkapitalismus spricht. Er arbeitet mit dem Öffentlichkeitsbegriff von Jürgen Habermas. Nicht weniger ist er allerdings mit Niklas Luhmanns Systemtheorie im Bunde, über die er eine theaterwissenschaftliche Dissertation geschrieben hat. Von der Kontingenz bis zur Selbstreferenzialität dekliniert er sich durch ihre zentralen Begriffe. Und als wäre dies nicht genug, verwebt er es mit Motiven von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, die sich neuerdings der Rettung der Biosphäre verschrieben hat.

Teufel des Neoliberalismus

Man könnte also behaupten, dass Stegemann selbst einen postmodern angehauchten Theoriemix betreibt, wenn er in der Postmoderne nicht den willigen Handlanger seines Hauptgegners, des totalitären Teufels des Neoliberalismus, erkennen würde. Geradezu fundamentalistisch polemisiert er gegen den Sinn für Ambivalenzen, die das postmoderne Theoriefeld dem Denken abverlangt.

„Die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Natur und Kultur, zwischen den Nationen, Religionen oder Geschlechtern, alle diese Entscheidungen sollen als obsolet gelten", schreibt er. An ihre Stelle tritt stattdessen das Chaos der Bruchlinien, die zwischen allen Menschen, Meinungen und Interessen verlaufen. Niemand ist mehr Teil eines größeren Zusammenhangs, sondern jeder lebt in der Mikroumwelt seiner hochspezialisierten Existenz.“ Und weiter: „Eine gemeinsame Wahrheit kann es für die Postmoderne nicht geben, da alles relativ ist, und sie darf es nicht geben, da eine solche Wahrheit eine Machtposition gegenüber den widerstreitenden Parteien einnehmen würde.“

Da ist es, das Gespenst des Relativismus, das in einigen Fällen tatsächlich sein Unwesen treiben mag. Man erinnere sich etwa an Judith Butlers törichte Bemerkungen zur weiblichen Genitalverstümmelung, die ihren gendertheoretischen Ansatz dennoch nicht von Grund auf zu diskreditieren vermögen. Als Generalvorwurf spiegelt er jedoch ein Zerrbild dessen, was Poststrukturalismus und Dekonstruktion in ihrer Kritik von eindeutigen Sinnzusammenhängen und falschem Essenzialismus leisten – oder was Michel Foucaults Machtanalyse prägt.

Kein Zweifel: Postmodernes Wissen geht einher mit dem „Ende der großen Erzählungen“, wie die berühmte Formel von Stegemanns Kronzeugen Jean-François Lyotard lautet: dem Abschied von ungebrochen metaphysischen Wahrheiten, systemisch geschlossenen Entwürfen und teleologischen Geschichtskonzepten.

Auswege aus der Selbstherrlichkeit des Menschen

Gerade in der Debatte um das Zeitalter des Anthropozän ist es unerlässlich – Stegemann greift stillschweigend selbst darauf zurück –, die wesenhafte Dualität von Natur und Kultur aufzulösen und damit den Menschen in seiner selbstherrlichen Subjektivität zurückzustufen.

Statt in „der“ Postmoderne immer nur einen Gegner zu erkennen, könnte Stegemann sie sich zum Verbündeten machen – etwa in seiner Kritik an einer technokratischen Politik, die aufgrund von Expertenwissen Alternativlosigkeit behauptet, wo durchaus andere Wege möglich wären. Auch die Absolutsetzung von Kapital und Arbeit hilft nicht mehr weiter. Mit der Anerkennung vielfältiger Bruchlinien sind, wie Stegemann argwöhnt, keineswegs alle Widersprüche aufgehoben. Bei ökonomisch abgehängten Bürgern führen sie, wie er zeigt, zu „kognitiven Dissonanzen“ und xenophoben Ressentiments, unter den Anhängern der Wokeness zu einer Form von Schizophrenie.

Was immer man Bernd Stegemann aber an Widersprüchen – erst reißt er die Grenze zwischen Tatsachen und Meinungen ein, dann zieht er sie wieder hoch – oder unsauberen Begriffen vorhalten mag, macht er durch eine Fülle treffender Beobachtungen wett.

Allein gültige Opferidentität

Kaum jemand hat bisher die Paradoxien identitätspolitischer Aussagen so ausführlich herausgearbeitet wie er. Alle Identitäten, zeigt er, sind für die Wokes „Konstruktionen und Natur zugleich, und wer darüber entscheiden darf, wann die eine und wann die andere Behauptung gilt, hat die Macht über die Identität.“ So begeben sie sich argumentativ, je nach Interesse, in einer permanenten Rochade mal auf die eine und mal die andere Seite – außer bei „der Opferidentität, die ist absolut gültig“.

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Man hat Stegemann schon vorgehalten, dass er ungewollt das Geschäft der Rechten betreibe. Im Hinblick auf den Kontext, in dem er seine Analysen anstellt, ist das absurd. Vor allem bestätigt der Einwand seine Diagnose, wie schwer es geworden ist, Argumente zu akzeptieren, ohne dass diese vom Status des Sprechers abhängig gemacht werden. Dennoch würde er es sich leichter machen, wenn er zugeben könnte, dass Glaubwürdigkeit und Erfahrung wichtige Aspekte gelingender Kommunikation sind – und dass kulturelle Aneignung nicht per se unproblematisch ist.

Das Seltsamste an diesem Buch ist sein latent religiöser Diskurs. Einleuchtend noch der Vergleich zwischen dem Sprung in eine minoritäre Identität und dem Kierkegaard’schen Sprung in den christlichen Glauben: Er unterliegt einem willentlichen Entschluss, ist für den, der ihn tut, dann aber nicht mehr als Entscheidung nachzuvollziehen.

Irritierend dagegen Stegemanns Versuch, die Ökologie auf den letzten Seiten zum Ersatz einer verlorenen Transzendenz zu stilisieren. Sicher: Es ist eine „Transzendenz ohne Gott und ohne Ritual“, doch als Provokation, „den menschlichen Geist mit einer Instanz zu konfrontieren, die er nur als unerreichbaren Fluchtpunkt erfahren kann“, ist sie mehr als eine uneinsehbare, offene Zukunft. Wie aus der „demütigen Arbeit“ an ihr jemals Realpolitik werden soll, weiß tatsächlich nur der Himmel.

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