Manifest von Bruno Latour: Erdenbürger, erwachet!
Jenseits von Rechts und Links: Der französische Theoriestar Bruno Latour verfasst ein „terrestrisches Manifest“, um den Planeten zu retten.
„Was komponiert wurde, kann jederzeit auch kompostiert werden“, formulierte der französische Soziologie Bruno Latour vor einigen Jahren. Dieser Möglichkeit ist auch sein neuestes Manifest gewidmet. Es handelt von der Erde – im ökologischen wie im politischen Sinne. Eine Vorübung hatte Latour 2010 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Kulturpreises der Münchener Universitätsgesellschaft präsentiert. Damals sprach er von einem kompositionistischen Manifest. Kompositionistisch kommt von komponieren, zusammensetzen. Was komponiert ist, kann auch auseinandergenommen, neu zusammengebaut werden. Die Dinge müssen nicht so sein, wie sie sind.
Natürlich kann kaum ein Manifest mehr einsetzen ohne das melancholische Bekenntnis, die Ära der großen Manifeste sei vorbei. So ist das auch bei Latour, der seine Thesen vergangene Woche auch im Rahmen einer Anthropocene Lecture des Hauses der Kulturen der Welt vorstellte. Vorbei die Zeit des selbstbewussten Vorwärtsschreitens, siegesgewiss, mit avantgardistischem Kriegsgeschrei. Nostalgisch schaut Latour auf jene Etappen, in denen der Fortschritt noch greifbar, die Bündnispartner und Allianzen noch eindeutig zu benennen waren. Heute dagegen verschwimmen Begriffe wie reaktionär und progressiv, links und rechts. Wer Bündnispartner, wer politischer Gegner sei, liege nicht mehr auf der Hand.
Freilich war schon in der Hochphase des Genres, als in schneller Folge dadaistische, surrealistische, futuristische Manifeste entstanden, die Überbietungsgeste von Spott begleitet: Aufruf zum Manifestantismus! Die Geste findet sich bei Latour eher im Umgekehrten. War die Lage 2010 schlimm, ist sie gegenwärtig schlimmer: die Niederlage Hillary Clintons, der Brexit, der amerikanische Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen.
Bestandsaufnahme des Status quo
Die gesamte Politik kristallisiere sich, so mahnt Latour, im „Problem der Klimaverleugnung“. Damit ist mehr gemeint als die ökologische Krise, wie sie die nationale und internationale Politik gegenwärtig beschäftigt. Auf die Formel „There is no Planet B“ hat Emmanuel Macron gerade seine Kritik an Trumps Klimapolitik vor dem amerikanischen Kongress gebracht. Klimaverleugnung ist für Latour das Stichwort einer politischen Bewegung der Eliten, die sich dem Unwirklichen verschrieben habe. Die „obskurantistischen Eliten“ wüssten, wie es um den Planeten stehe, aber suchten, um ihre eigenen Privilegien nicht zu verlieren, wissenschaftliche Erkenntnisse geheim zu halten. Wie nah seine eigenen Überlegungen an verschwörungstheoretischen Annahmen sind, reflektiert Latour selbst.
Das „Terrestrische Manifest“ bietet eine Art Bestandsaufnahme des Status quo, wobei das größte Übel zum epistemischen Glückfall wird: Der „Trumpismus“, den Latour als politische Innovation ganz eigener Art begreift, macht Kräfteverhältnisse sichtbar. Latour spricht in gewohntem Jargon von Attraktoren und Vektoren. Liegt Trumps „Originalität“ Latour zu Folge darin, dass er faktisch Unvereinbares vereine, zeigt sich genau darin die neue entscheidende Kraft, nämlich das Außererdige, verstanden als die Leugnung aller Realitäten. Wir leben, das ist als Diagnose nicht neu, im Zeitalter der „Postwahrheitspolitik“.
Latour will aus der Umlaufbahn der von ihm selbst mitangezettelten zweiten Postmoderne ausbrechen: mit einer terrestrischen Politik, die nicht mehr links, nicht mehr rechts, nicht mehr modern, nicht mehr antimodern ist. Neu sortieren sich mit Blick auf den „dritten Attraktor“, das Terrestrische und alle politischen Konstellationen. Im geosozialen Zeitalter stelle sich auch die Klassenfrage neu.
Sucht Latour wirklich einen dritten Weg?
Latours Buch ist eine politische Programmschrift: „Où atterrir? Comment s’orienter en politique“ heißt sie im französischen Original: Wo landen? Wie man sich in der Politik orientiert. Im deutschen Titel ist daraus im Marx-Jahr 2018 das terrestrische Manifest geworden. Akzentuiert wird damit eine klassenkämpferische Dimension, die dem Buch trotz unscharfer Terminologie zweifelsohne eignet.
Das Manifest will sein Publikum vom Kopf auf die Füße stellen. Im Titel liegt auch eine Aufforderung: Kommt auf den Boden der Tatsachen! Wacht auf! In Quarantäne schickt der deutsche Titel die heikle Tradition des Erdigen. Man denke an Heideggers Auseinandersetzung mit van Goghs Schuhen. Versperrt ist nach Latour der Weg der Globalisierungsgegner zurück ins Lokale, ebenso ausweglos die Flucht der Progressiven nach vorn. Sucht Latour wirklich einen dritten Weg? „In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde.“ Die Spur ist unverkennbar: „Zur Erde gehört dieses Zeug, und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.“ Die politisch brisante Frage lautet entsprechend: Wieviel Heidegger steckt in Latours Aufbruch nach Terra X?
Bruno Latour: Das terrestrische Manifest. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp, Berlin 2018. 136 Seiten, 14 €.
Hendrikje Schauer