Russlands Krieg gegen die Ukraine: Wie stellen Sie sich einen Fluchtkoffer vor?
Flugzeuge über dem Haus, Nächte im Keller, Abschiednehmen – die Sicht einer ukrainischen Dramatikerin auf den Krieg in ihrem Land.
Um 5.51 Uhr ruft mich meine Freundin Tasia an. Wir haben bis 2 Uhr morgens in einer schrottigen Bar in Kiew getrunken, vielleicht habe ich vergessen, ihr danach zu schreiben, dass ich zu Hause bin und es mir gut geht? Die übliche Routine aller Frauen auf der Welt, denke ich. „Nastenka, wach auf“, sagt sie. „Es hat angefangen. Die Russen haben Raketen auf Kiew, Charkiw und Lwiw abgefeuert“.
So war der Morgen aller Ukrainer am 24. Februar des Jahres 2022, stelle ich mir vor.
Wann der Krieg begann
Eine kleine Geschichtsstunde: Der russisch-ukrainische Krieg begann im Jahr 2014. Damals war ich ... lassen Sie mich rechnen: Ich bin so alt wie mein Land, also 30, folglich war ich im Jahr 2014 22. Ich habe den Krieg damals nicht gesehen – er fand im Osten statt, in Donezk und Luhansk, und ich lebte im Südosten, in der stolzen Stadt der ukrainischen Kosaken, Saporischschja.
Die Russen versuchten auch in meiner Stadt den so genannten „Russischen Frühling“ zu veranstalten, aber sie scheiterten – die Einwohner bewarfen sie mit Eiern und Mehl (Sie können unter "яєчна неділя" Bilder davon googlen, es war unglaublich). Und so wurde meine Stadt nie zur „SNR“. Aber Donezk und Luhansk wurden zu „DNR“ und „LNR“, so genannten Volksrepubliken. Und Russland okkupierte die ukrainische Halbinsel Krim. Das wissen Sie wahrscheinlich alles.
Zum ersten Mal sah ich den Krieg im Jahr 2019. Ich glaube es war im August. Als Dramatikerin kam ich für das internationale Projekt „Misto 2 Go“ nach Popasna. Schon früher hatte ich Städte an der Frontlinie gesehen, aber diese waren im Unterschied zu Popsana von der ukrainischen Regierung wiederhergestellt worden. Popasna liegt nur drei Kilometer von den besetzten Gebieten entfernt und wurde 2014 schwer beschossen. Einige der Einschusslöcher sind noch in den Wänden der Gebäude zu sehen.
Wir machten eine kleine Tour durch die Stadt mit Victor, dem Direktor der Schule Nummer 1. „Hier ist eine Bushaltestelle, an der eine Frau durch Artilleriebeschuss gestorben ist, es hat ihr einfach den Kopf abgerissen. Dort drüben haben die Russen auf das Auto eines Geschäftsmannes geschossen und ihn dabei getötet“.
In dieser Nacht trank ich viel, konnte aber nicht einschlafen. Um Mitternacht begannen die Russen an der Grenze zur „LNR“ zu schießen. Es klang nach einem Maschinengewehr. Ich lag in meinem Bett und dachte: „Ich möchte, dass jemand Angst um mich hat.“
So weit weg wie möglich?
Wie entscheidet man sich zu fliehen? Nun, zunächst tut man das nicht. Mein Freund Pasha schreibt mir um 10 Uhr morgens eine SMS: „Es gibt noch einige Zugtickets in die Westukraine. Kauf sie“. „Beruhige dich, Pascha“, schreibe ich ihm zurück. Bei mir denke ich: „Mansplain mir nicht, wie ich mich während eines Krieges zu verhalten habe“. Ich versuche zu essen, kann aber nicht. Ich fülle alle Flaschen und Eimer in der Wohnung mit Wasser (nur für den Fall). Ich wasche mir schnell die Haare – man will ja nicht unter der Dusche stehen, wenn die Sirene losgeht.
Ich nehme das Klebeband und klebe es überall an die Fenster meines Zimmers. Dann – die Küche (Scheiße, warum haben wir so große Fenster?). Meine Mitbewohnerin Marina kommt, um Hallo zu sagen. „Willst du Klebeband für die Fenster in deinem Zimmer?“, frage ich sie. „Ja. Wahrscheinlich schon“, sage sie.
Koffer. Wie stellen Sie sich einen Fluchtkoffer vor? Meiner ist tiffanyblau, ich habe ihn vor zwei Monaten gekauft – sehr günstig, nur 960 Griwna (etwa 30 Euro). Ich bin damit nach Berlin und zurück gefahren, jetzt steht er nur noch in der Ecke, gefüllt mit Medikamenten und Energieriegeln (ja, ich habe die Anleitungen für das Packen von Notfallkoffern gelesen, wie alle Ukrainer).
11 Uhr. Ich packe Dokumente und warme Kleidung ein. Dann packe ich nochmal neu. Ein Flugzeug fliegt über mein Haus. Dann noch eins.
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12 Uhr. Meine Freundin Vika schreibt mir eine SMS. Sie ist in Lwiw, vor vier Tagen ist sie dorthin gefahren, um an der Universität zu studieren. Ihr Mann Vova und ihr Sohn Misha sind in Kiew geblieben. „Willst du zu uns kommen? Je mehr, desto besser. Vova hat vor, morgen nach Lwiw zu fahren. Sie haben einen Sitzplatz im Auto“. Ich sage: Ok, gute Idee, ich muss nur noch einmal meinen Koffer neu packen. Und vielleicht das Geschirr abwaschen.
Und das Bett aufräumen. Und etwas Make-up auflegen. Schließlich rufe ich ein Taxi (überraschenderweise geht das noch) und bin bereit aufzubrechen. Ich muss mich nur noch von meiner Mitbewohnerin verabschieden. Obwohl ich mit Worten arbeite, finde ich irgendwie keine. Und dann geht die Sirene los.
Und was ist mit der Liebe?
Vor ein paar Tagen habe ich ein lustiges TikTok-Video gesehen. Ein Mann starrt auf sein Telefon, mehr besorgt als verwirrt. Die Zeile dazu lautet: „Wenn dein Freund aus Kiew dir um 4 Uhr morgens eine SMS schickt, in der steht ,Ich liebe dich’“. Sie verstehen, oder?
Wenn wir erst einmal in Lwiw sind, werde ich weinen und weinen und weinen, sage ich mir, als wir am 25. Februar Kiew verlassen. Wenn ich in Lwiw ankomme. Aber als wir drei Tage später tatsächlich dort sind, weine ich nicht. Auch in Lwiw gibt es Sirenen. Aber statt im Keller eines 16-stöckigen Gebäudes oder einer alten Schule verstecken wir uns im Keller des Theaters Les Kurbas. Schick.
Am 27. Februar fahren wir mit Vova los, um eine der beiden Katzen, die er und Vika hergebracht haben, zu guten Menschen zu geben. Diese Leute wollen nicht weggehen, sie kümmern sich so lange um die Katze, wie es nötig ist. Vova parkt das Auto, nimmt den Katzenkorb und geht. Ich bleibe im dunklen Auto und öffne die Nachrichten auf meinem Mobiltelefon. Die erste Meldung: Grad-Raketen schlagen in den Vororten von Charkiw ein. Ein Gebäude, dann ein anderes, und dann noch eines. Und noch eins.
Wie hört sich eine Grad-Rakete an, fragte jemand meinen Freund Kostia aus Charkiw in den Facebook-Kommentaren. Es ist ein sehr leises, beängstigendes Summen, antwortete Kostia, man kann es mit nichts anderem verwechseln.
Und wenn wir schon beim Thema Liebe sind, möchte ich fragen, was ihr Gegenteil ist. Das Gegenteil von Liebe. Sie brauchen es nicht zu benennen, aber wie würden Sie es beschreiben, ohne es zu benennen? Ich sage, jeder Ukrainer empfindet das jetzt gegenüber den Russen. Und ich denke, wir werden das noch sehr lange fühlen. Vielleicht für immer. (Wir hätten das früher fühlen sollen.)
Tagebuch des ukrainischen Himmels
Ich habe diese App „Kiew Digital“ auf meinem Telefon. Sie wurde entwickelt, um den Kiewern zu helfen, digitale Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmittel zu kaufen. Manchmal zeigt die App auch an, wenn das Internet für zwei bis drei Stunden ausfällt. Was sagt sie mir jetzt? Mittwoch, 9. März: 4.37 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen. 6.01 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen. 6.21 Uhr, Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen. 8.46 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen. 9.23 Uhr. Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen. 10.32 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen. 11.06 Uhr, Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen. 12.42 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen. 13.36 Uhr, Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen. 13.43 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen.
14.13 Uhr, Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen.
15.47 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen.
16.39 Uhr, Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen.
18.48 Uhr, Luftalarm: Sofort in den Schutzraum gehen.
20.07 Uhr, Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen.
20.41 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen.
21.08 Uhr, Ende des Luftalarms. Weitere Meldungen befolgen.
23.58 Uhr, Luftalarm. Sofort in den Schutzraum gehen.
Schließt den Himmel über der Ukraine. Das ist mein einziger Punkt.
Aus dem Englischen von Nadine Lange.
Anastasiia Kosodii