Geschichte des Kalifats: Vom Ideal des weisen Herrschers im Islam
In der muslimischen Erinnerung spielt das Kalifat eine große Rolle. Hugh Kennedy geht seiner Geschichte nach. Eine Buchbesprechung.
Beim Begriff Kalif assoziierte man früher sagenhafte Gestalten wie den Kalifen Storch aus Wilhelm Hauffs gleichnamigem Kunstmärchen, oder man erinnerte sich an den legendären Kalifen Harun ar-Raschid (763–809), den Gründer von Bagdad, der mit Karl dem Großen und dem Kaiser von China korrespondierte. Doch wurde dieser schillernde Begriff durch die Terrorherrschaft des sogenannten Islamischen Staates diskreditiert, der sich anschickte, die nationale Identität von Syrien und Irak zu löschen, ihre Kulturgüter zu zerstören und ein Kalifat zu errichten, dem alle Muslime der Welt folgen sollten.
Dieser größenwahnsinnige Anspruch des 2014 selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi zeigte, wie wirkungsmächtig die Idee des Kalifats war, das seine Blütezeit zwischen dem Tod Mohammeds und dem Beginn der Kreuzzüge gehabt hatte und eine Lücke zwischen dem Abdanken des letzten Kalifen im Jahre 1924 und heute füllte.
Hugh Kennedy, Professor für Arabistik in London, entfaltet in „Das Kalifat. Von Mohammeds Tod bis zum ,Islamischen Staat‘ “ die komplizierte Geschichte des schwer zu fassenden Begriffes. Die Ereignisse der frühen Geschichte des Islam erinnern moderne Islamisten an eine Welt, „in der das Kalifat das mächtigste und fortschrittlichste Gemeinwesen des gesamten eurasischen Raums war. Damals hatte Bagdad eine halbe Million Einwohner, während es in London und Paris lediglich einige tausend waren“, schreibt Kennedy, „das Kalifat verwaltete riesige Gebiete mit einer stehenden Armee und einer Bürokratie, deren Beamte lesen, schreiben und rechnen konnten; zudem waren Bagdad und Kairo große Handels- und Kulturzentren.“ Doch das hatte der Islamische Staat nur bedingt im Sinn.
Niemand schaut in die Angelsächsische Chronik, um England zu verstehen
Kennedy hat es sich zur Aufgabe gemacht, Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen die Geschichte dieser Idee und ihrer Glanzzeiten und Errungenschaften zu erklären, um auf dieser Basis die Gegenwart besser zu verstehen. Niemand käme auf die Idee, in die Angelsächsische Chronik zu schauen, „die aus derselben Epoche stammt wie die frühen arabischen Quellen, und nutzt sie zur Rechtfertigung heutiger Politik“. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, wieso gerade die Idee des Kalifats eine solche Faszination ausübt.
Und er dämpft gleich zu Beginn die Erwartungen: Das Buch sei „von der Botschaft durchzogen, dass die Idee des Kalifats eine reiche, vielfältige Tradition ist. (… ) Die Geschichte zeigt, dass es viele verschiedene Arten von Kalifen gab, kriegerische, fromme, intellektuelle, vergnügungssüchtige, inkompetente, grausame und tyrannische. Sie alle sind Teil der Kalifentradition.“ Wichtig ist es ihm bei der Beurteilung des Kalifats, dass es diese eine Wahrheit nicht gibt, dass man sich immer der Vielfalt dieser Idee bewusst sein muss.
Zudem durchziehen die drei grundlegenden Fragen, „wie ein Kalif zu wählen ist, wie Wesen und Ausmaß seiner Macht beschaffen sein und wie sie aufgezeichnet und genutzt werden sollen“, das Buch. Keine leichten Fragen, denn wer soll den Kalifen wählen dürfen? Oder darf er nur aus einer der beiden heiligen Familien, der Alis oder derjenigen Fatimas, gewählt werden? Ist es da nicht praktischer, gleich den amtierenden Herrscher selbst auswählen zu lassen – die durchaus häufigste Variante?
Das Spektrum ist weit gespannt
Das Spektrum dessen, was ein Kalif ist, ist weit gespannt. Es reicht von der Idee des dem Propheten Mohammed ebenbürtigen Gott-Königs bis hin zum primus inter pares, dem Vorstand der muslimischen Gemeinschaft. Kennedy erläutert die komplizierte Idee des Kalifats jeweils im historischen Kontext. Grundlegendes Material sind hierbei vor allem die erst 200 Jahre nach dem Tod Mohammeds aufgezeichneten Geschichten über die ersten vier Kalifen, Abu Bakr (632–634), Umar (634–644), Uthman (644–656) und Ali (656–661). An diesen Texten entzünden sich noch politische Debatten.
„Kalif“ bedeutet eigentlich, jemandem nachzufolgen oder ihn zu vertreten. Das war vor allem nach dem Tod Mohammeds 632 virulent. Die ersten vier Kalifen zogen mit ihm noch durch Arabien, flohen aus Mekka nach Medina, wo sie freundlich von den Einheimischen aufgenommen wurden, die man als ansar, Helfer des Propheten, bezeichnete, ein Begriff, den militante Gruppen heute noch als Ehrentitel verwenden.
Hugh Kennedy nimmt uns mit auf eine informative Reise durch die komplexe Geschichte des Islam und des arabisch-persischen Kulturraumes. Keine leichte Aufgabe, da der durchschnittliche europäische Leser in arabischer Geschichte kaum vorgebildet ist. Viele Namen wird man zum ersten Mal hören, doch es lohnt sich, den Dialog mit dieser Kultur zu suchen. Und es tut gut, gerade in dieser Zeit, daran zu erinnern, wie die Abbasiden, unter deren Herrschaft sich der Schwerpunkt des Kalifats unter den Umayyaden von Damaskus nach Bagdad in den heutigen Irak verlegte, gegenüber anderen Kulturen auftraten. Hier schuf Harun al-Raschid mit Bagdad die Metropole eines Reiches auf der Höhe seiner kulturellen Blüte. Bagdad hieß damals eigentlich Madinat as-Salam, Stadt des Friedens, in der sich Christen und Juden entfalten und ihre Gotteshäuser bauen konnten, allerdings als Bürger zweiter Klasse.
Tempel und Bauwerke der Antike wurden zwar als Steinbruch für Baumaterial genutzt, aber nicht aus ideologischen Gründen zerstört. Als Kalif Mansur begonnen hatte, nach der Eroberung des sassanidischen Ktesiphon den Palast abzureißen, konnte ihn sein persischer Berater überzeugen, das zu unterlassen: „Das halte ich nicht für eine gute Idee, o Fürst der Gläubigen …“ Der Palast sei „einer der Beweise des Islam, die den Betrachter überzeugen, dass Völker und ihre Herren nicht durch die Macht dieser Welt hinweggefegt wurden, sondern allein durch die Macht Gottes.“
Kennedy erklärt auch die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten, die zum Beispiel die Wahl eines Kalifen durch die Schura, die Ratsversammlung, ablehnen. Sie wenden sich gegen Instrumente weltlicher Herrschaft und vertreten eher die Interessen der einfachen Leute, ein Grundzug, der sich bis heute erhalten hat.
Die Vielfalt des Kalifats zeigt sich in Córdoba und Marokko
Der Autor beleuchtet auch das von den Umayyaden abgespaltene Kalifat von Córdoba in Spanien sowie das der Almohaden im heutigen Marokko und Andalusien. Auch darin zeigt sich noch einmal die Vielfalt der Idee des Kalifats, das erst 1924 durch die Türkei beendet wurde. Aber bereits nach den Kreuzzügen war es nicht mehr gelungen, an die Glanzzeiten des Kalifats der Abbasiden anzuschließen. In der muslimischen kollektiven Erinnerung spielt gerade diese Blütezeit eine herausragende Rolle.
Auf das Ende des Kalifats reagierte die muslimische Welt mit Bestürzung, auch angesichts der imperialen Dominanz des Westens im Nahen Osten. Aber darüber, wie ein neues Kalifat zu fassen sei, ob getrennt vom Staat oder nicht, konnte man sich nicht einigen. Und angesichts der Bedrohungen durch den Westen war die Idee des arabischen Nationalismus, so Kennedy, zunächst attraktiver als ein Kalifat. „Es ist immer wichtig, zu erkennen, dass der Ruf nach Gründung eines islamischen Staates oder einem Dschihad nicht gleichzusetzen ist mit dem Ruf nach einem Kalifat mit all seinen universellen Ansprüchen“, schreibt Kennedy. Selbst für Osama bin Laden sei das ein utopisches Fernziel gewesen. Die Idee des Kalifats fasziniere durch ihre Flexibilität und übe daher heute noch eine große Macht aus. In den Händen des IS sei die Idee des Kalifats gefährlich, betont Kennedy, die Idee selbst aber müsse niemand fürchten, wie die Geschichte gezeigt habe.
Hugh Kennedy: Das Kalifat. Von Mohammeds Tod bis zum „Islamischen Staat“. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Verlag C.H. Beck, München 2017. 368 S., 28 €.