Arabisch-islamische Geschichte: Die Sehnsucht der IS-Schlächter nach dem Kalifat
Die Truppen des Islamischen Staats haben ein neues Kalifat ausgerufen. Doch was ist das eigentlich? Die Sehnsucht nach einem vermeintlich goldenen Zeitalter gehörte schon immer dazu. Kurze Geschichte einer sonst längst abgeschafften Institution.
Man stellt ihn sich unweigerlich mit einem Turban vor. Harun al-Raschid, der zwischen 786 und 809 von Bagdad aus das Abbasidenreich regierte, wurde in Europa durch die „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“ zum Inbild des Kalifen. In der Sammlung streift er mit seinem Wesir nachts inkognito durch Bagdad, um sich ein Bild von den Sorgen und Nöten seiner Untertanen zu machen. Als Musterexemplar des gütigen und weisen Herrschers steht er für das Kalifat im Zenit seiner Macht. Tatsächlich waren die Erzählungen rund um al-Raschid schon zur Zeit ihrer Entstehung Ausdruck der Sehnsucht nach einem untergegangenen goldenen Zeitalter. Die historische Figur wurde idealisiert. Harun al-Raschid wurde als Hedonist und Liebhaber von Trinkgelagen dargestellt, während der wirkliche Kalif ein eher frommer und ernster Zeitgenosse gewesen sein soll, der sich zudem erfolglos mit einem Gegenkalifen herumschlug, der seinen Machtbereich im Osten des Reiches ausbauen konnte.
Am Beispiel Harun al-Raschids zeigt sich, wie Realität und Mythos der Kalifen – die vielen wechselnden Bedeutungen des Titels gehen dem Wortsinn nach auf die „Nachfolger des Gesandten Gottes" (arab., khalifat rasul Allah) zurück – schon immer auseinanderfielen: eine geschichtliche Konstante, gekoppelt mit der Überzeugung, dass früher alles besser war. Es ist die Geschichte einer rückwärtsgewandten Utopie. Mit der Eroberung Bagdads und der Ermordung des Kalifen durch die Mongolen endete 1258 das abbasidische Kalifat – und damit, so will es die gängige Geschichtsschreibung, die Blütezeit der klassischen arabisch-islamischen Kultur. Es folgten, dieser Lesart zufolge, Jahrhunderte des Niedergangs, der politischen Machtlosigkeit und der kulturellen Dekadenz. Das einst mächtige Reich zersplitterte in allerlei Fürstentümer.
Unter dem "osmanischen Joch"
Die Eroberung Ägyptens und Syriens 1516/17 durch Selim I. besiegelte dann das Schicksal der arabischen Muslime. Der osmanische Sultan nahm, nachdem er die Kontrolle über Mekka und Medina errungen hatte, auch den Titel des Kalifen an. Die Araber mussten fortan unter dem „osmanischen Joch“ leben. In Wirklichkeit war die Macht der arabischen Kalifen schon lange vor dem Mongolensturm stark geschrumpft. Der islamische Westen mit Marokko und Spanien blieb nach der abbasidischen Revolution Mitte des achten Jahrhunderts den Umayyaden treu. Der Osten mit Iran und Zentralasien war spätestens Mitte des neunten Jahrhunderts nur noch nominell dem Kalifen in Bagdad untergeben. Und zwischen 969 und 1171 herrschten die schiitischen Gegenkalifen der Fatimiden von Kairo aus über Ägypten und weite Teile des östlichen Mittelmeerraums.
Als das Abbasidenreich von den Mongolen überrannt wurde, war es faktisch ein zerfaserter Verbund lokaler Herrscher, Fürsten und Stammesältester. Selbst im Kernland Irak hatten die Kalifen die Kontrolle verloren, seit sich im zehnten Jahrhundert die schiitische Dynastie der Buyiden als die eigentlichen Machthaber etabliert hatten. Zwar beließen sie die Kalifen zur Stützung ihrer Autorität bei den Sunniten im Amt, lenkten aber als Wesire die Geschicke des Reiches. Die Bedeutung des Abbasidenkalifen beschränkte sich die meiste Zeit auf das Symbolische.
Atatürks Politik ließ keinen Raum für alte, religiöse Institutionen in der Türkei
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Osmanischen Reiches kamen die Araber vom Regen in die Traufe. Zwar war das „osmanische Joch“ nun Geschichte, doch wurden sie nun zum Spielball europäisch-imperialistischer Machtpolitik. Mustafa Kemal Atatürks republikanische Politik ließ keinen Raum für die alten, religiösen Institutionen in der Türkei. Zwei Jahre nachdem der letzte osmanische Sultan abgesetzt und damit die jahrhundertealte Personalunion von Sultan und Kalif beendet worden war, verabschiedete die türkische Nationalversammlung am 3. März 1924 ein Gesetz, in dessen erstem Artikel es unzweideutig heißt: „Der Kalif ist abgesetzt. Das Amt des Kalifen ist abgeschafft, da das Kalifat im Sinne und Begriff von Regierung und Republik wesenhaft enthalten ist.
Die rückwärtsgewandte Utopie der IS-Milizen
Im Untergang des osmanischen Kalifats sahen Nationalisten die Chance, ein arabisches Kalifat wiederzuerrichten. Wenig später rief sich König Husain im Hedschas zum Kalifen aus, aber außerhalb seines Clans wollte davon niemand wissen. Ein Krieg auf der arabischen Halbinsel führte noch im selben Jahr zu seiner Abdankung. Sohn Ali versuchte die militärische Unterstützung des ägyptischen Königs Fuad I. mit der Übertragung des Kalifenamtes zu gewinnen. Doch der verzichtete. Neuer König des Hedschas wurde Abdalaziz Ibn Saud, der später das Königreich Saudi-Arabien proklamierte. Kalif wollte auch er nicht werden.
Muslimische Theologen sprachen sich gegen die Wiederbelebung des Kalifats aus
Bestrebungen, das Kalifat wiederzubeleben, hat es immer wieder gegeben. Indische Intellektuelle riefen 1919 das „All-India Central Khalifat Committee“ ins Leben, dem auch Mahatma Gandhi beitrat. Es sollte Indiens Muslimen eine Stimme in den Neuordnungsprozessen nach dem Ersten Weltkrieg geben. Zwei Konferenzen muslimischer Gelehrter in Kairo und in Mekka waren 1926 letzte Versuche, die Institution zu retten. Sie scheiterten auch daran, dass sich die Öffentlichkeit für die Frage schlicht nicht interessierte. Die Ordnung der Region nach nationalstaatlichen Kriterien war längst unumkehrbar. Eine säkulare Kultur hatte sich durchgesetzt. Der Orientalist Franz Taeschner schrieb in den 1944 erschienenen „Beiträgen zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft“ lapidar, dass „der Kalifatsgedanke heute wohl als erloschen gelten“ könne.
Aber auch muslimische Theologen sprachen sich gegen eine Wiedereinrichtung des Kalifats aus. Der Ägypter Ali Abdalraziq argumentierte 1925 in seinem Buch „Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft“, weder der Koran noch die Überlieferungen von Muhammad begründeten das Kalifat. Die politische Tätigkeit des Propheten sei den Umständen seiner Zeit geschuldet und hätte nichts mit dem Wesen des Islam zu tun. Tatsächlich war die Nachfolge Muhammads zu dessen Lebzeiten nicht geregelt worden. Als die noch junge muslimische Gemeinde nach Muhammads Tod 632 vor dem Problem der Führungslosigkeit stand, wählte sie mit Abu Bakr einen Prophetengefährten der ersten Stunde zu ihrem Oberhaupt.
Schon mit der Ermordung des dritten Kalifen Uthman endete 656 die Einheit der Muslime, als die Wahl Alis, Muhammads Schwiegersohn , nicht allgemein anerkannt wurde. Muawiya, ein Verwandter Uthmans, erhob sich gegen Ali und begründete die Dynastie der Umayyaden, die bis 750 als erbliche Monarchie die Kalifen stellte und Damaskus zu ihrer Hauptstadt machte. Aus der „Partei Alis“ (arab. schiat Ali) gingen die Schiiten hervor. Für die Vertreter des modernen politischen Islamismus ist die Machtübernahme der Umayyaden die Urkatastrophe der islamischen Geschichte. Sie lassen nur die ersten vier – „rechtgeleiteten“ – Kalifen gelten. Wenn nun die im Irak und in Syrien kämpfende Gruppe „Islamischer Staat“ (IS) ihren Anführer Abu Bakr al-Bagdadi zum Kalifen ausruft, knüpft sie an die mit den „rechtgeleiteten Kalifen“ verbundene Sehnsucht nach den reinen Ursprüngen des Islam an. Als Verfechter einer rückwärtsgewandten Utopie steht der IS damit in einer langen Tradition ideologischer Kalifatsverklärung. Mit dem Märchenkalifen Harun al-Raschid hat das so wenig zu tun wie mit der einst so blühenden Kultur der historischen arabisch-islamischen Reiche.
Andreas Pflitsch