Sunniten und Schiiten: Das islamische Schisma
Sunniten und Schiiten sind sich in inniger Feindschaft verbunden. Die Ursachen des Konflikts reichen sehr weit zurück.
Seit Generationen ist die Spaltung der Umma – der muslimischen Gemeinschaft – in die geopolitische Landkarte des Nahen Ostens eingezeichnet. In Syrien und im Irak, wo die westlichen Kolonialmächte einst ungeachtet konfessioneller Identitäten künstliche Staatsgrenzen in den Wüstensand zogen, macht der sunnitisch-schiitische Konflikt ein Gutteil des aktuellen Desasters aus. Iran und Saudi-Arabien treten in den ethnisch und religiös zerklüfteten Gebieten als selbst ernannte Schutzmächte von Schia und Sunna auf. Gleiches gilt im Jemen, im Libanon, in Bahrain und überall sonst, wo sich die Anhänger der beiden größten islamischen Konfessionen gegenüberstehen.
Was aber ist der Ursprung des Schismas, das die Bürgerkriege theologisch untermauert und dessen Folgen noch im 21. Jahrhundert die halbe Welt erschüttern? Was unterscheidet Schiiten und Sunniten voneinander und was wirft man sich gegenseitig vor, das eine jahrhundertelange Feindschaft begründet?
Der Prophet hinterlässt keine männlichen Erben
Der Konflikt entzündet sich an der heiklen Frage, wer nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 die (politische) Führung der muslimischen Gemeinde übernehmen soll. Da der Prophet keinen männlichen Erben hinterlässt, entsteht ein dynastisches Vakuum. Schon früh bilden sich zwei Parteien, die auf verschiedene Prinzipien der Nachfolge pochen. Die, die man später Sunniten nennen wird, orientieren sich tribal, das heißt an der Zugehörigkeit zu den Quraisch, dem Stamm der Prophetenfamilie.
Die später als Schiiten bezeichneten Muslime setzen dagegen auf eine streng genealogische Erbfolge und sehen Ali, den Neffen und Schwiegersohn Mohammeds, als rechtmäßigen – zumal angeblich von diesem höchstselbst designierten – Nachfolger an. Darüber, dass die göttliche Offenbarung mit der Koran-Übermittlung abgeschlossen ist und Mohammed das Siegel des Prophetentums darstellt, sind sich beide Parteien einig.
„Der Streit um die Nachfolge bildet den Nukleus des Konflikts, den wir in seinem Ursprung mit unserem heutigen Vokabular als politisch bezeichnen würden“, sagt Rainer Brunner. Der Freiburger Islamwissenschaftler ist Experte für sunnitisch-schiitische Verhältnisse und zeichnet zudem als Herausgeber des jüngst erschienenen Sammelbandes „Islam: Einheit und Vielheit einer Weltreligion“ verantwortlich, in der zahlreiche Fachleute die wichtigsten islamkundlichen Themen erörtern.
Erst im Laufe der Zeit theologisiert sich der Konflikt
Die oft bemühte These, dass es sich bei der Schia um die heterodoxe Abspaltung eines orthodoxen Mehrheitsislams handelt, hält Brunner für falsch. Tatsächlich kann von einer Orthodoxie in der islamischen Frühzeit keine Rede sein, da es – wie in der Entstehungsphase des Christentums auch – noch keine theologischen Standards gab. Die Theologisierung des Konfliktes geschieht erst im Laufe der Zeit. Die allmählich entstehenden konfessionellen Eigenheiten, insbesondere der Schia, sind mit der jahrhundertelangen Konfliktgeschichte aufs Engste verwoben.
Es sind die späteren Sunniten, die in der islamischen Frühzeit die Oberhand gewinnen. Die ersten vier Kalifen, Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali gelten in der Sunna als „rechtgeleitet“, in der Schia werden die ersten drei dagegen als Usurpatoren gehandelt, die den vom Propheten designierten Ali heimtückisch ausgebootet hätten. Schließlich übernimmt dieser als vierter Kalif tatsächlich das Ruder, muss sich aber gegen den militanten Widerstand seiner Gegner behaupten. Nachdem diese in Damaskus das umayyadische Kalifat errichten, werden die Protoschiiten zusehends unterdrückt. Und auch als die Abbasiden schließlich von Bagdad aus die umayyadischen Herrscher beerben, verbessert sich die Lage keineswegs.
Die Figur des Imams nimmt bei den Schiiten eine Schlüsselrolle ein
Die für die Theologie der Schia essenzielle Imamatslehre und einige der zentralen Riten, wie das Martyrium, seien nicht zuletzt unter dem Eindruck von Marginalisierung und militärischen Niederlagen entstanden, meint Rainer Brunner. Während man bei den Sunniten eine vergleichbare Institution vergeblich sucht, nimmt die Figur des Imams bei den Schiiten eine Schlüsselrolle ein. Als erster Imam gilt selbstverständlich Ali, Nummer zwei und drei sind dessen Söhne Hassan und Hussein, danach verengt sich das Imamat auf die husseinidische Linie. Noch heute geißeln sich die Schiiten alljährlich im Monat Muharram am Tag Aschura, um der Ermordung Husseins durch die sunnitischen Umayyaden in der Schlacht von Kerbela im Jahre 680 n. u. Z. zu gedenken.
Seit dem 8. Jahrhundert dann werden die Imame mit einem unfehlbaren, allwissenden und sündlosen Charakter versehen. Zwar haben diese Nachfolger Mohammeds keine neue Offenbarung im Gepäck, gelten aber als Mittler zwischen Gott und den Menschen und für den Fortbestand der Welt als essenziell. „Man versuchte, die faktische Unterlegenheit im machtpolitischen Gefüge zu kompensieren, indem man den Imamen fantastische Eigenschaften zusprach“, sagt Brunner. Deren Apotheose – die radikale Sunniten bis heute als häretischen Götzendienst verdammen – ist ein zentrales Motiv schiitischer Identität.
Die Schia spaltete sich in diverse Untergruppen
In der Praxis führte die Theorie jedoch mitunter zu erheblichen Problemen, zum Beispiel wenn der Sohn eines Imams als designierter Nachfolger seines Vaters noch vor diesem ums Leben kam und die Blutlinie damit unterbrochen war. So spaltete sich die Schia schnell in diverse Untergruppen, die in Reihe und Anzahl der verehrten Imame voneinander abweichen. Die Ismaeliten, auch 7er-Schiiten genannt, waren zunächst die bedeutendste Gruppe, spielen aber seit dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert keine Rolle mehr. Die Zaiditen, früher zuweilen als 5er-Schiiten bezeichnet, sind heute vor allem im Nord-Jemen ansässig und stellen das Personal der von Teheran unterstützten und von Riad bombardierten Huthi-Rebellen. Die langfristig erfolgreichste Variante ist aber eindeutig die heute im Iran als Staatsreligion verankerte 12er-Schia.
Unterschiedliche Geschichtsauffassungen
„Die 12er-Schia, auch Imamiya genannt, nimmt eigentlich erst ab dem 10. Jahrhundert Gestalt an“, sagt Rainer Brunner. Die Machtübernahme der Schia-affinen Buyiden nach 930 habe den Weg für einen umfassenden Rationalisierungsschub geebnet, in dessen Verlauf man die theologisch heiklen Aspekte allmählich entschärft habe. So zum Beispiel den in frühschiitischer Zeit häufig gehegten Vorwurf einer angeblichen Koranfälschung durch sunnitische Redakteure. Denen hatte man lange unterstellt, dass sie jene Verse, die unmissverständlich auf die Designation Alis verwiesen, aus dem heiligen Buch entfernt hätten. Bis heute provoziert diese nur noch selten bemühte Verschwörungstheorie den wiederum sunnitischen Vorwurf einer schiitischen Leugnung des Korans als göttliche Offenbarung.
„Ein entscheidender Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten besteht in ihrer Geschichtsauffassung“, sagt Brunner. „Die Sunniten sind alles in allem mit dem Gewesenen einverstanden, die Schiiten trauern einer Historie nach, wie sie eigentlich hätte sein sollen.“ Aber nicht bloß die Vergangenheit werde unterschiedlich bewertet, eine weitere Differenz bestehe im Zugang zur Heilsgeschichte.
Denn der raffinierteste Kniff der imamitischen Lehre ist zweifelsohne die „Theologie der Verborgenheit“. Um das Problem des kaum zu leugnenden Größenunterschieds zwischen normalsterblichem Imam und dessen fantastischer Überhöhung auszuräumen, entrückte man den 12. Imam im 10. Jahrhundert kurzerhand in ein göttliches Versteck.
Safawiden als schiitische und Osmanen als sunnitische Schutzmacht
Irgendwann, in einer fernen Endzeit, so erklärte der 12er-schiitische Klerus, würde dieser Mahdi genannte Erlöser zurückkehren, seine Feinde aus dem Feld schlagen und das Paradies auf Erden errichten. Zwar kommt die Figur des Mahdi auch im sunnitischen Islam vor, spielt dort aber eine eher untergeordnete Rolle. Für die Schiiten hingegen – die realhistorisch häufig das Nachsehen hatten – ist die Messias-Erwartung zentral.
In zeitgenössischen Nahostdiskursen wird der sunnitisch-schiitische Zwist nicht selten auf die handgerechte Formel einer arabisch-persischen Feindschaft verkürzt. Tatsächlich aber, erklärt Rainer Brunner, sei die Schia auf arabischem Boden entstanden. Ihre Verbreitung im Iran verdankt sie der Safawiden-Dynastie, die sie im Jahr 1501 zur Staatsreligion machte. Schon im 16. und 17. Jahrhundert gab es mehrere Kriege, in denen die Safawiden als schiitische und die Osmanen als sunnitische Schutzmacht aufeinandertrafen. Den Anspruch auf letztere Rolle hat im Lauf des 20. Jahrhunderts dann Saudi-Arabien übernommen.
Die Virulenz des saudisch-persischen Konflikts – in dem die geopolitische Fehde sich nahtlos mit den konfessionellen Spannungen verschränkt – rührt auch daher, dass die saudischen Wahhabiten mehrere imamitische Heiligtümer dem Wüstensand gleichmachten. Denn immerhin vier der zwölf Imame liegen in Medina, im heutigen Saudi-Arabien, begraben. Die Wallfahrten zu deren Mausoleen, die manche Schiiten wichtiger finden als die für alle Muslime obligatorische Pilgerfahrt nach Mekka, waren den puristischen und bilderfeindlichen Sunni-Extremisten ein Dorn im Auge.
Theologisch sind die Gemeinsamkeiten größer als die Unterschiede
Zwar sind die Gemeinsamkeiten der beiden Großkonfessionen, rein theologisch betrachtet, größer als die Unterschiede. Die schiitische Lesart vom Weltlauf als einem heilsgeschichtlichen Geschehen stößt sich jedoch am „machtpolitischen“ Zugang der frühen Sunniten. Daher, so Rainer Brunner, steht eine baldige Überwindung des Schismas kaum zu erwarten. Solange die beteiligten Akteure ihre jeweiligen Identitäten an die Ereignisse der Frühzeit binden, sei der Konflikt ein Perpetuum mobile.