Berlinale in der Pandemie: „Nicht optimal, aber die bestmögliche Lösung“
Im März gibt es ein Digital-Event für die Branche, im Juni ist das Publikum dran. Das Leitungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek verteidigt das Modell.
Frau Rissenbeek, Herr Chatrian, wir alle vermissen die Berlinale in diesem Februar. Was vermissen Sie am meisten?
CARLO CHATRIAN: Ich vermisse dasselbe wie alle anderen auch, den Austausch. Während der Berlinale ist die Kommunikation für uns oft von Hektik geprägt, kurze Meetings, ein kurzes Händeschütteln. Aber gerade spüren wir schmerzlich, wie kostbar all das ist. Nicht die Filme fehlen, das Publikum fehlt.
MARIETTE RISSENBEEK: Es fehlen ja nicht nur die Begegnungen mit dem Filmschaffenden, sondern auch mit den Verleiher*innen, den Vertriebsfirmen, denen, die die Filme mit großer Leidenschaft zum Publikum bringen und das Kinoerlebnis erst möglich machen.
Die Berlinale ist das weltweit wichtigste Publikumsfestival. Viele Fans fragen sich, warum im März zwar ein digitales Branchenevent für die Filmindustrie stattfindet, mit Jurys und Medien, aber das Publikum bis zum Sommer-Event warten muss.
RISSENBEEK: Unsere Intention ist es ja gerade, den Berliner*innen die Filme unter bestmöglichen Bedingungen zu zeigen, auf der Leinwand, zusammen mit anderen Menschen. Das geht wegen der Pandemie voraussichtlich erst im Sommer. Ich glaube nicht, dass die Menschen sich zur Zeit nach noch mehr Möglichkeiten sehnen, Filme online zu sehen. Das wäre sicher nicht der richtige Weg gewesen.
Aber wir sitzen alle zu Hause. Das Publikum kann nicht zum Festival kommen, warum geht das Festival nicht zum Publikum?
CHATRIAN: Sind Sie sicher, die Leute wollen noch mehr Filme online gucken? Wenn sie das Festival vermissen, dann das Gefühl, etwas gemeinsam im Kino erleben zu können. Ein Filmfest hat ja auch noch andere Aufgaben, es ist unser Job, die Branche zu unterstützen. Die Händler und Weltvertriebe wünschen sich nach bald zwölf Monaten Unterbrechung dringend einen Markt mit einem kuratierten Programm. Wenn die Pandemie-Entwicklung es zulässt, kann unser Sommer-Event ein superschönes Festival werden. Vermutlich wird es noch Reisebeschränkungen geben, aber das betrifft dann nicht das Berliner Publikum. Und zum anderen sind die Filmschaffenden entspannter als gewöhnlich im Februar, denn die Arbeit ist schon getan
Ist ein Bärenrennen mit einer Jury jetzt statt im Sommer nicht ein Zugeständnis an die Filmindustrie, mit dem Sie das Publikum vor den Kopf stoßen?
CHATRIAN: Die Arbeit der Medien wie der Jury ist in diesem besonderen Jahr essentiell. Die Preise machen es den Filmen erheblich leichter, ihren Weg in die Kinos zu nehmen. Einige werden schon vor dem Juni starten, vielleicht nicht in Deutschland, aber in anderen Ländern. Und von der Presse profitieren die Filme ebenfalls, wenn Sie auf starke Produktionen aufmerksam machen.
Wir Medien sind nicht für die Industrie da, sondern für unsere Leser*innen.
CHATRIAN: Filme existieren ja nicht im luftleeren Raum. Wenn Sie im März schreiben, das ist ein Meisterwerk, helfen Sie dem Film dabei, dass er vor Publikum im Kino laufen kann.
Ein "Siegel" wie in Cannes reicht nicht? Das Festival gab im Mai eine Liste mit Cannes-gelabelten Filmen bekannt.
CHATRIAN: Cannes war das erste große Festival im Lockdown. Wir haben das weiterentwickelt und veröffentlichen nicht nur die Titel des Wettbewerbs, sondern die Filmauswahl aller Sektionen. Das Line-Up ist nicht einfach eine große Kiste mit Filmen, es hat insgesamt die Struktur der Berlinale.
Der Festival-"Buzz", die Aufregung rund um einen Film, fällt erstmal aus.
CHATRIAN: Als wir Mitte Februar unser Programm bekanntgaben, hat Roland Emmerich gleich etwas über "Tides" von Tim Fehlbaum getwittert, der im Berlinale Special läuft. Einen Buzz kann es schon vor der Präsentation eines Films geben. Da Cannes in den Juli rückt, sind wir im Sommer das erste große internationale Festival, das physisch stattfindet. Dann kommen die Filmschaffenden, die Stars, und es gibt bestimmt einen großen Buzz, in Berlin und bei allen, die Filme lieben.
Sind der emotionale Wert einer unmittelbaren Publikumsreaktion im Kino und der dann womöglich steigende finanzielle Wert eines Films auf dem Markt nicht untrennbar miteinander verbunden?
RISSENBEEK: Online lässt sich der Buzz beim Publikum nicht erzeugen. Was denken Sie, hätten wir das Festival komplett absagen sollen?
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Sie hätten auch dem Publikum im März ein Online-Angebot machen und trotzdem das Sommerfestival veranstalten können.
CHATRIAN: Wir leben in unvorhersehbaren Zeiten. Unsere Lösung ist nicht optimal, aber es ist die bestmögliche unter den gegebenen Umständen. Noch einmal: Wir haben eine doppelte Verpflichtung, gegenüber dem Publikum und gegenüber den Filmen. Wir bitten das Publikum um Verständnis, um Geduld. Sie zahlt sich hoffentlich aus, wenn wir im Sommer das Kino selbst feiern können, Open Air und in vielen Sälen.
Die Teilnahme am European Film Market kostet 89 Euro, Spätanmelder zahlen 134 Euro. Brauchen Sie die Einnahmen?
RISSENBEEK: Nein, finanzielle Erwägungen spielten überhaupt keine Rolle bei der Entscheidung, den EFM digital stattfinden zu lassen. Im Normalfall beträgt unser Budget 27 Millionen Euro. Etwa zehn Millionen Euro zahlt der Bund, der Rest sind Eigeneinnahmen, Ticketverkäufe, Sponsoren und anderes. Dieses Jahr sind wir finanziell anders aufgestellt, da wir erheblich weniger einnehmen können. Der Bund hat zusätzliche Mittel zugesagt, auch aus dem „Neustart Kultur“-Programm, um unsere Lücke zu füllen.
Die Jury besteht aus sechs internationalen Regisseur*innen. Mohammad Rasoulof wird aus dem Hausarrest in Teheran zugeschaltet, die anderen kommen nach Berlin. Müssen sie erst mal in Quarantäne?
RISSENBEEK: Es gibt Sonderbestimmungen für Menschen, die aus beruflichen Gründen nach Berlin einreisen, wir sind da in ständigem Austausch mit den Behörden. Die Jury ist im Hotel untergebracht, sie wird keinen Kontakt zu anderen Menschen haben und die Filme gemeinsam in einem Kino anschauen, das groß genug ist. Es werden sechs Personen sein, fünf Juror*innen und eine Verbindungsperson für Rasoulof, der die Filme bei sich zu Hause im Heimkino in Teheran sieht.
Normalerweise besteht die Bären-Jury aus sieben Personen, warum nur sechs?
CHATRIAN: Es sind ja alles Goldbären-Gewinner*innen. Sie alle wollen ihre Kolleg*innen mit ihrer Jurytätigkeit unterstützen. Dass wir dieses Jahr auf einen Präsidenten oder eine Präsidentin verzichten und keine ungerade Mitgliederzahl haben, bedeutet, dass die Entscheidung besonders demokratisch ausfallen wird. Es hat sich so ergeben, aber dann fanden wir die Zusammensetzung gut. Drei Frauen, drei Männer.
Für die Berlinale 2020 sind Sie sehr viel gereist, Sie betonten, wie wichtig der persönliche Kontakt ist. Wie war das diesmal?
CHATRIAN: Selber zu reisen, ist sehr wichtig, ich vermisse es. Aber wir halten auch ohne physische Begegnungen engen Kontakt zu den Filmschaffenden. Es gab 6318 Filmeinreichungen dieses Jahr, letztes Jahr waren es 6798. Die Auswahlarbeit hat gut funktioniert.
Im Encounters-Wettbewerb zum Beispiel waren 2020 mehr bekannte Namen versammelt, dieses Jahr kann man dort noch stärker auf Entdeckungsreise gehen. Der Erfolg von Encounters führte dazu, dass auch jüngere, unbekanntere Regisseur*innen sich speziell dafür beworben haben.
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Warum fehlen im Bären-Wettbewerb US-amerikanische Filme?
CHATRIAN: Festivalpremieren sind ja immer ein Teil der Vermarktungsstrategie, es hat also zum Teil mit der Startpolitik der Studios zu tun. Was die Stars betrifft, finden sie sich in den Galas von Berlinale Special. Wir hoffen, im Juni in Berlin Michelle Pfeiffer mit „French Exit“, Jodie Foster mit „The Mauritanian“ und Tina Turner begrüßen zu können.
Kein einziger englischsprachiger Film im Bärenrennen, das gab es noch nie.
CHATRIAN: Es ist auch das erste Mal, dass das Festival sein Angebot und seine Formel ändern musste. Die Filmauswahl enthält eine gute Anzahl an US-Produktionen: Drei davon sind zum Beispiel bei Encounters, und bei Berlinale Special haben wir fünf englischsprachige Filme. Alles gute Filme, doch wir denken, dass sie nicht in den diesjährigen Wettbewerb passen. Außerdem haben wir beschlossen, nur Weltpremieren in den Wettbewerb aufzunehmen.
Mehr als die Hälfte der Berlinale-Filme wurde unter den Bedingungen der Pandemie produziert oder postproduziert. Sind die Stoffe, die Bilder davon affiziert?
CHATRIAN: Das habe ich mich auch gefragt. Was projizieren wir in Filme hinein, was ist tatsächlich zu sehen? Natürlich sind Spuren der Pandemie erkennbar, manche Figuren tragen Masken, manche sind unter Stress. Interessanter ist aber, was unter der Oberfläche geschieht.
Nach meinem Eindruck kommt das Gefühl der Unsicherheit häufig zum Tragen, genauso der Wunsch, Menschen zusammenzubringen und mehr als eine Person im Bild zu zeigen. Viele Filme sind in meinen Augen persönlicher, vielleicht hat auch das mit Corona zu tun: dass Regisseur*innen sich mehr Freiheiten nehmen. Céline Sciammas „Petite Maman“ ist ein gutes Beispiel, auch Daniel Brühls Regiedebüt „Nebenan“, in dem er nicht zuletzt ironisch mit seinem eigenen Image spielt.
Vier von 15 Wettbewerbsfilmen stammen aus Deutschland. Ganz schön viele.
CHATRIAN: Letztes Jahr waren es zwei, da hieß es, das ist zu wenig. Mariette sagte, wenn es gute Filme sind, dann nimm sie. Die vier stehen für die unterschiedlichsten Filmkulturen. In Maria Speths sehr persönlichem Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ ist die Welt wie in einem Mikrokosmos in einer Schulklasse repräsentiert. Er trägt fast märchenhafte Züge. Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, sind stolz darauf, hier zu leben. Der Film vermittelt gute Vibrations.
Daniel Brühls Hommage an Berlin spielt in einer Kneipe in Prenzlauer Berg, also an einem Ort, der symbolisch für die Stadt steht, auch für ihre Konflikte. Maria Schraders „Ich bin dein Mensch“ mit Maren Eggert, Sandra Hüller, Dan Stevens, Hans Löw und anderen verbindet Science-Fiction-Elemente mit denen der romantischen Komödie. Schließlich Dominik Graf, der aus Erich Kästners „Fabian“-Roman einen zeitgenössischen politischen Stoff gemacht hat.
Europa dominiert den Wettbewerb. Ist die Filmwelt wegen Corona kleiner geworden?
CHATRIAN: Wir wollen eine größtmögliche Diversität, auch geografisch. Aber das heißt nicht, dass wir gleichmäßig Fähnchen auf der Weltkarte verteilen. Der Bären-Wettbewerb versammelt unter anderem Filme aus Georgien, Kanada/Libanon, Japan, Südkorea, Mexiko, Iran und Frankreich, in Encounters finden sich drei Weltpremieren aus den USA.
Gerne hätten wir einen Film aus Afrika oder aus einem südostasiatischen Land wie Indonesien in der Auswahl, aber es müssen die richtigen Filme sein. Zum Glück ist die Berlinale kein Planet, sondern eine Galaxie. Im Panorama, im Forum, in Encounters sind Produktionen aus Afrika vertreten.
Inwieweit spiegelt das Programm neue Entwicklungen in der Filmwelt?
CHATRIAN: Vielleicht ist es symptomatisch, dass wir nach vielen Jahren eine Produktion aus dem Libanon im Wettbewerb zeigen. Der Iran ist wieder dabei, auch in Encounters und im Panorama finden sich Beiträge aus dem Mittleren Osten. In der Region tut sich etwas. Bei den Filmsprachen fällt auf, dass häufig Genreformen aufgegriffen und aufgebrochen werden. Die filmischen Formen werden anders genutzt.
Die Berlinale als das Festival für mutige Arthouse-Filme, Cannes für die etablierte Filmkunst, Venedig für die Oscar-Anwärter: Wollen Sie dieses Profil weiter schärfen?
CHATRIAN: Wenn Sie unser Programm so wahrnehmen, weiß ich das zu schätzen. Ich selbst habe das nicht im Kopf, denn so würde ich die Auswahl von vornherein schmälern. Jedes Jahr ist anders, wir spiegeln nicht zuletzt das Produktionsgeschehen. Ich freue mich jedenfalls, dass die Filmschaffenden unsere Einladung zu dieser speziellen zweistufigen Festivalausgabe gerne angenommen haben. Auch für sie ist es eine Herausforderung.
Erstmals werden die Schauspielpreise „genderneutral“ vergeben, nicht mehr für Darstellerin und Darsteller, sondern für Haupt- und Nebenrolle. Was sagen Sie zu der Kritik, gerade Frauen sei damit ein Bärendienst erwiesen
RISSENBEEK: Ich kenne die unterschiedlichen Haltungen zu genderneutralen Preisen und respektiere sie. Aber ich denke, dass wir damit auch die Auseinandersetzung über Gendergerechtigkeit vorantreiben können. Und wir tragen den Menschen Rechnung, die sich nicht einem bestimmten Geschlecht zuordnen lassen wollen. Es gab ja auch Reaktionen wie von Tilda Swinton, Sigourney Weaver oder Cate Blanchett, die das toll finden und uns in der Entscheidung bestärkt haben.
Haben Sie einen Plan B, falls im Juni doch keine entspannten Veranstaltungen möglich sind? Die auf Ende Mai verschobene Leipziger Buchmesse wurde inzwischen komplett abgesagt.
RISSENBEEK: Das Juni-Event ist doch unser Plan B, Sie fragen nach Plan C. Wenn im Juni die Kinos geschlossen sind, hat die Filmwelt noch ganz andere Probleme. Die Kinos haben ein großes Bedürfnis, ihre Türen wieder zu öffnen, an einer Zusammenarbeit mit der Berlinale sind sie extrem interessiert. Wir werden dafür sorgen, dass die Besucher*innen sich wohlfühlen, und ihnen einen sicheren Kinobesuch bieten, mit Abstands- und Hygienemaßnahmen. Im Cinemaxx und im Cubix werden wir zum Beispiel nicht alle Säle bespielen, und es wird genügend zeitlichen Abstand zwischen den Vorführungen geben.
Ist Ihre Zusammenarbeit mit den Berliner Kinos, denen die Einnahmen aus dem Kartenverkauf zugutekommen, ein Zeichen der Solidarität mit der Kinobranche?
RISSENBEEK: Da wir nicht vorhersehen können, wie im Sommer die Kinos ausgelastet werden können, kam uns die Idee, mit zehn lokalen Betreibern als Partnern zu arbeiten und die Planung gemeinsam flexibler zu gestalten. Das heißt auch, dass die Berlinale nicht an Veranstaltungsorten wie dem Friedrichstadtpalst oder dem Berlinale Palast stattfinden wird. Auch größere Hallen wie die Arena waren im Gespräch. Aber wir finden, dass sich die Berlinale besonders in diesem Jahr als genuines Kinofestival präsentieren sollte.