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Die Preise der Berlinale. Der Goldene Bär für den besten Film und einer der Silbernen Bären.
© dpa/Christoph Soeder

2021 zuerst ohne Publikum: Die Krise offenbart die Abhängigkeiten der Berlinale

Im März findet die Berlinale exklusiv für Einkäufer statt, erst im Sommer folgt das Publikum. Das wirft ein Schlaglicht auf die Machtverhältnisse. Eine Analyse.

Als Filmjournalist verspürt man dieser Tage einen leichten Phantomschmerz. Zwar würde die Berlinale erst am 11. Februar beginnen, aber in den Redaktionen liefen die Planungen unter normalen Umständen schon jetzt auf Hochtouren.

Die Auswahl der Sektionen Panorama und Forum wird gewöhnlich im Januar verkündet, die Berliner Journalist*innen säßen gerade in den ersten Pressevorführungen. Diese Winter-Rituale fallen aus: Die Berlinale findet 2021 im Sommer statt, das gab es zuletzt 1977.

Die Klage über das schneematschige Berlinale-Wetter ist ein liebgewonnenes Ritual. Plötzlich fehlt etwas – zumal anstelle der geballten Filmladung im Februar nun ein Hybrid tritt, der für viele Stammgäste gewöhnungsbedürftig ist.

Der erste Teil der Berlinale wird vom 1. bis 5. März unter Ausschluss der Öffentlichkeit als Branchen-Event stattfinden: Es gibt den Hauptwettbewerb und „Encounters“, Panorama, Forum und „Generations“, und am Ende werden wie immer Filme ausgezeichnet.

Doch außer den Jurymitgliedern und 1600 Pressevertreter*innen wird vorerst niemand den Gewinner des Goldenen Bären zu sehen kriegen. Erst im Sommer, wenn die physische Berlinale planmäßig nachgeholt werden soll, darf dann über die Jury-Entscheidungen gestritten werden.

Der Grund ist die Branchendynamik

Die Festival-Dramaturgie wird gewissermaßen von den Füßen auf den Kopf gestellt: Das Publikum kennt in diesem Jahr die Preisträger, bevor das eigentliche Festival überhaupt begonnen hat. Es ist aktuell vielleicht nicht das drängendste Problem, aber die Berlinale beraubt sich damit eines Spannungsmoments.

Der Gedanke dahinter ist für ein Publikumsfestival mindestens bemerkenswert. Das Label „Berlinale“ wird gebraucht, um den European Film Market (EFM) anzukurbeln, der Anfang März in einer abgespeckten Online-Version abgehalten wird.

Normalerweise findet das Branchenereignis im Windschatten der Berlinale zeitgleich im Gropius Bau statt; es macht auch einen Großteil der Akkreditierten aus. Der Termin des European Film Market hat sich nun als unantastbar erwiesen, anders als die Berlinale. Der Grund dafür ist die Branchendynamik.

Der EFM eröffnet im Februar gewissermaßen das jährliche „Transferfenster“ der internationalen Filmindustrie, im Mai folgen der Markt in Cannes, im September Toronto und abschließend im Herbst der American Film Market in Los Angeles. An dieser Taktung orientiert sich die Filmindustrie.

Hier wird gehandelt wie an der Börse. In der große Halles des Gropius-Baus findet traditionell der European Film Market der Berlinale statt.
Hier wird gehandelt wie an der Börse. In der große Halles des Gropius-Baus findet traditionell der European Film Market der Berlinale statt.
© Lia Darjes

Galt in der öffentlichen Wahrnehmung der EFM bislang eher als Anhängsel der Berlinale, offenbart die Pandemie nun die wahren Kräfteverhältnisse. Die Zweiteilung der Berlinale wirft ein interessantes Licht auf die Rolle von Festivals in einer Branche, in der – wie in allen Industrien – gerade Krisenstimmung herrscht.

Dennis Ruh, seit September 2020 der Leiter des EFM, versteht die Irritationen, er gibt auch zu, dass dem Filmmarkt in diesem Jahr das Publikum fehlen wird. „Die Berlinale und der European Film Market stärken sich gegenseitig.“ Mundpropaganda ist immer noch die beste Werbung. „Aber wir können zumindest eine Sichtbarkeit herstellen. Die Branche braucht zu dieser Jahreszeit einen Filmmarkt.“

Cannes-Chef Thierry Frémaux stand im Mai 2020 vor demselben Problem. Das Festival musste abgesagt werden, für den Markt gab es diese Option wegen des dichten Terminkalenders nicht. Er fand digital statt.

Um den Filmeinkäufern eine Orientierungshilfe zu geben, erhielten 56 Filme, die auf dem Festival gezeigt worden wären, ein Gütesiegel. Es war die erste Reaktion in einem Klima allgemeiner Unsicherheit. Ruh sagt dazu, dass man von Cannes gelernt habe.

Die Fragilität der Filmindustrie

Er hält es daher für wichtig, dem EFM mehr als nur eine Liste von Titeln als Empfehlungsschreiben mitzugeben: „Die Sektionen stehen für eine kuratorische Handschrift, dementsprechend helfen sie den Marktteilnehmern, sich bei der Filmauswahl zu orientieren.“ Die Entscheidung, die Bekanntgabe der Preise an den Filmmarkt zu koppeln, ist ein – den Umständen geschuldeter – Kompromiss, er kratzt aber an der Identität der Berlinale als Publikumsfestival.

Gleichzeitig gibt diese Konstellation zu erkennen, wie fragil die Filmindustrie unter den Einflüssen einer wachsenden globalen Produktion, der Streamingplattformen und nicht zuletzt der Pandemie geworden ist.

Festivals wie die Berlinale übernehmen heute die wichtige Funktion, den Filmen, die ihnen anvertraut werden, nicht nur eine Öffentlichkeit zu bieten, sondern sie auch in einem zunehmend unübersichtlichen Angebot auf ihre kommerzielle Verwertbarkeit hin abzuklopfen.

Im Juli 2019 sagte Festivalleiter Carlo Chatrian im Tagesspiegel: „Wenn ich einen Film mag, denke ich darüber nach, wie die Berlinale ihm helfen kann. Und es hilft den Filmen, wenn sie den Markt zielgenauer adressieren können.“ Ansonsten besteht die Gefahr, dass ein Film trotz Festivalpreisen im Überangebot schlichtweg untergeht, wie es etwa Mati Diops Cannes-Gewinner „Atlantique“ im Netflix-Programm passiert ist.

Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian erklären die Absage.
Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian erklären die Absage.
© REUTERS/Annegret Hilse

Es kostet Überwindung, über Arthousefilme und künstlerisch anspruchsvolles Kino – für viele schließlich eine Herzensangelegenheit – mit solch kühler neoliberaler Logik zu sprechen. Aber es zeigt auch, welchem Wandel die Filmbranche unterliegt. Festivals und Filmmärkte gehören heute wie Produktionsfirmen, Weltvertriebe, Verleiher und Kinobetreiber zu einem fragilen Ökosystem.

Die gegenseitige Abhängigkeit zeigt sich im Kleinen zum Beispiel darin, dass sich ein nicht geringer Teil des Berlinale-Eigenanteils am Gesamtbudget aus den Einnahmen des EFM speist. Die Pandemie hat die Verzahnung nur noch vergrößert.

Michael Weber vom Kölner Weltvertrieb Match Factory sieht die Situation ebenfalls kritisch. „Unsere Filme brauchen Festivals als Resonanzboden.“ Match Factory gehört im Arthouse-Bereich zu den führenden Vertrieben, Weber produziert und vertritt so unterschiedliche Regisseur*innen wie Aki Kaurismäki, Jim Jarmusch, Kelly Reichardt, Fatih Akin, Athina Rachel Tsangari und Apichatpong Weerasethakul. Und weil viele Filme aus dem Match-Factory-Portfolio nicht automatisch ihr Publikum finden, hält er auch von der Idee eines Gütesiegels à la Cannes wenig.

Darum hat Match Factory – wie viele andere Weltvertriebe – im Mai seine besten Filme aufgehoben. Die Berlinale-Lösung ist für Weber unter den gegebenen Umständen attraktiver, er sieht das Problem aber ganz woanders. „Viel einschneidender ist für uns, wie lange die Kinos noch geschlossen sind. Dieses Fragezeichen steht momentan über der Branche.“

Das Kaufverhalten ist in der Pandemie zögerlicher

Tatsache ist zwar, dass die Filmmärkte aufgrund zahlreicher Verschiebungen noch nicht unter Verknappung leiden. Aber das Scheckheft sitzt vielen Verleihern, die seit März 2020 kaum noch neue Filme ins Kino bringen konnten, auch nicht gerade locker.

Diese Einschätzung teilt EFM-Chef Ruh: „Das Kaufverhalten ist zögerlicher als vor der Pandemie, weil im Moment die Perspektive fehlt. Die Attraktivität der Filmmärkte ist abhängig von der Kinosituation. In diesem Jahr hilft uns das Hilfspaket 'Neustart Kultur', aber langfristig wird entscheidend sein, wie großflächig die Kinos wieder öffnen.“

Tobias Lehmann vom Alamode Verleih (der unter anderem die Bären-Gewinner „Nader und Simin“ und „Gloria“ herausbrachte), sagt am Telefon, dass er den EFM in diesem Jahr nur als Zaungast besuchen wird: „Es ergibt für uns gerade keinen Sinn, Filme zu kaufen.“

Gerade ging in Paris die Filmmesse „UniFrance Rendez-Vous“ virtuell zu Ende. Lehmann nahm von dort vor allem den Eindruck mit, dass die Rechtehändler ihre besten Titel zurückhalten, weil sich die Preise im Keller befinden.

Der EFM funktioniert für ihn aber auch aus einem anderen Grund nicht ohne die physische Berlinale: „Für die Entscheidung, einen Film zu lizensieren, ist es immer hilfreich, ihn ein Mal mit einem Publikum gesehen zu haben.“

Die Krise könnte zu Lasten der Vielfalt gehen

Weber äußert dagegen die Hoffnung, dass die Pandemie auch eine regulierende Wirkung haben könnte: „Es waren zuletzt zu viele Filme auf dem Markt. Man wird sich künftig genauer überlegen müssen, welche von ihnen – bei weiterhin verknappten Kapazitäten – noch ins Kino gebracht werden müssen.“

Solch eine krisenhafte Verknappung birgt immer die Gefahr, dass sie vor allem auf Kosten junger Filmemacher*innen geht; oder Filme benachteiligt, die eine marginalisierte Perspektive einnehmen.

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Weber zeigt sich jedoch optimistisch, dass die gegenwärtige Krise auf lange Sicht nicht zulasten der Vielfalt geht. Er plädiert dafür, mit neuen Vertriebswegen für Arthousefilme zu experimentieren, die bei Netflix nur unter „ferner liefen“ geführt werden.

Sollten weniger Kinos die Pandemie überstehen, werden digitale Plattformen wie Mubi wichtiger, die gezielt „special interest“-Filme im Programm führen.

Die Berliner feiern ein anderes Filmfestival als die Vertreter der Filmbranche

Die Berlinale und der EFM sind Orte, an denen solche Diskussionen in Zukunft geführt werden müssen; insofern ist es richtig, die Interessen von Filmfestivals und Filmmärkten stärker miteinander zu verknüpfen.

Gleichzeitig birgt es für Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek Risiken, die Geschicke der Berlinale so stark am Markt auszurichten – auch wenn der Gedanke, als Patron ihrer Filme aufzutreten, ehrenvoll klingt.

Denn es bleibt fraglich, ob allein die Berichterstattung in den Medien Anfang März für einen Ansturm auf die Rechte der Berlinale-Filme reicht, solange niemand absehen kann, wann die Kinos wieder regulär öffnen. Am Ende sollten ökonomische Erwägungen seitens der Berlinale jedenfalls nicht das maßgebliche Argument für die Teilung in ein Jury- und ein Publikumsfestival sein.

Dies alles kann sich letztlich aber auch als Luxusproblem herausstellen, besonders in einem Pandemie-Jahr. Vielleicht sind im Sommer einfach nur alle erleichtert, wenn die Berlinale stattfindet. In der aktuellen Situation scheinen die meisten Menschen ohnehin andere Sorgen zu haben.

Und das Berlinale-Publikum hat sich schon in der Vergangenheit nur bedingt von Jury-Auszeichnungen beeindrucken lassen. Die Berliner*innen feiern seit jeher ein anderes Festival als die Vertreter der Filmbranche.

Für sie findet die Berlinale – Markt hin, Bären her – im Sommer statt; soweit das Virus es zulässt. Und das fühlt sich im Moment noch wie eine halbe Ewigkeit an.

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