Interview zu Lion Feuchtwangers Tagebüchern: „Mich haben seine Notizen nicht angewidert“
Der Potsdamer Handschriftenexperte Klaus-Peter Möller spricht über die Schwierigkeiten, die Tagebücher Lion Feuchtwangers zu entschlüsseln und was er Kritikern entgegenhält, die das Buch als belanglos bezeichnen.
Herr Möller, Sie haben an der Veröffentlichung der Tagebücher von Lion Feuchtwanger mitgewirkt, die ihn vor allem als Sexsüchtigen und spielsüchtigen Zocker zeigen. Wie kommt es, dass Sie als Fontane-Forscher nun mit Feuchtwanger fremdgehen?
Literatur, Sprache und Schrift haben mich schon immer interessiert. Auch im Theodor-Fontane-Archiv, wo ich seit über 20 Jahren arbeite, haben wir viel mit Handschriften zu tun, nicht nur mit denen Fontanes. Ich hatte für den Aufbau Verlag einige bisher unveröffentlichte Manuskripte von Hans Fallada transkribiert, die dann in dem Band „Junge Liebe zwischen Trümmern“ erschienen. Es war also kein Zufall, dass der Verlag auch mit dem nächsten Projekt auf mich zukam. Es ging um Feuchtwangers Tagebücher aus den Jahren 1906 bis 1940. Das fand ich ungeheuer spannend.
Gab es Zweifel, das Projekt anzunehmen?
Anfangs habe ich gezögert, weil das Projekt so umfangreich war. Zunächst bekam ich eine pdf-Datei der mit Schreibmaschine getippten Abschriften der Tagebücher zugeschickt, die in der Feuchtwanger Memorial Library an der University of Southern California liegen, insgesamt 1148 Seiten. Das Ziel war, eine Textdatei daraus zu machen, die der Aufbau Verlag nutzen wollte, um die Tagebücher zu edieren. Aber das war kein einheitliches Manuskript. Es gab unterschiedliche Schrifttypen, Wiederholungen, Sachen, die gar nicht dazu gehörten, Lücken, keine durchgehende Blattzählung. Ein so umfangreiches Manuskript abzuschreiben, ist ein enormer Aufwand.
Sie haben sich nicht abschrecken lassen.
Ich probierte es mit automatischer Texterkennung und hatte nach einigen Versuchen alles relativ gut eingelesen, natürlich mit Zeichensalat an manchen Stellen und vielen Fehlern. Wie sich bei den Korrekturen herausstellte, war auch das Typoskript selbst fehlerhaft und hatte Lücken. Es war klar, dass auf dieser Grundlage keine Edition möglich war und der Text noch einmal anhand der Originale verglichen werden musste.
Sie bekamen die Originale?
Die Handschriften wurden in LA eingescannt und über den Ozean geschickt. Es war ein toller Augenblick, als ich mir die Handschriften Feuchtwangers selbst anschauen konnte. Ich habe alles verglichen, mit Protokollen und Tabellen gearbeitet. Ein Riesenabenteuer. Beim Abgleichen stellte sich heraus, dass in der Abschrift außer vielen kleinen Lücken dreieinhalb Jahre komplett fehlten, der Zeitraum von 1916 bis 1919 und ein halbes Jahr 1933. Die fehlenden Teile habe ich nach den Handschriften transkribiert. Am Ende hatte die Textdatei einen Umfang von über 1500 Seiten.
Feuchtwanger schrieb seine Notizen teils in Gabelsberger Kurzschrift, also in Steno, die er auf dem Wilhelmsgymnasium in München erlernt hatte.
Zunächst hat Feuchtwanger eine normale deutsche Schreibschrift verwendet. In dieser Schrift sind die Tagebücher von 1906 bis 1922 notiert.
Also gut leserlich?
Jedenfalls lesbar. Aber auch diese Schrift ist tückisch, weil sich viele Buchstaben ähneln. Daher fanden sich zahllose kuriose Fehllesungen im Typoskript. Die Tagebücher von 1931 bis 1940 sind dann in Gabelsberger Kurzschrift notiert. Die habe ich extra für dieses Projekt gelernt. Die Stenografie hat eine lange, faszinierende Geschichte. Als erster Stenograf gilt Tiro, der ein eigenes Zeichensystem erfand, um die Reden von Cicero festzuhalten, die nach ihm benannten Tironischen Noten. Danach folgten viele verschiedene Systeme. Wegweisend für die Stenografie in Deutschland und anderen europäischen Ländern war die Kurzschrift, die Franz Xaver Gabelsberger im frühen 19. Jahrhundert entwickelte. Es ist die Grundlage der heute noch verwendeten Deutschen Einheitskurzschrift.
Entdeckt wurden diese Tagebücher in den 1990er-Jahren in Los Angeles in der Wohnung von Feuchtwangers Sekretärin, wo der Autor sie während der McCarthy-Ära vielleicht wegen ihrer Brisanz versteckt hatte.
Auch die Geschichte der Tagebücher und ihrer Abschriften erfuhr ich zunächst durch das Typoskript und die darin eingeschlossenen Beilagen. Bereits zu Beginn der 1990er-Jahre wurden die in Stenografie geschriebenen Teile der Tagebücher in Dresden im Auftrag des Aufbau Verlages von Elfriede Wedegärtner transkribiert, die sich großartig in Feuchtwangers Handschrift eingelesen hatte. Leider hat sie die Edition nicht mehr erlebt. Sie starb 2008 in Dresden, fast 92 Jahre alt. In einem Nachruf wurde sie als die Grande Dame der Stenografie gefeiert. Ich kam mir oft anmaßend vor, ihre Arbeit zu korrigieren und zu ergänzen. Ich habe mir die Stellen angesehen, die offensichtlich fehlerhaft oder zweifelhaft waren. Vollständig abgeglichen haben andere Mitarbeiter.
Gab es ein besonderes Erfolgserlebnis?
Unter dem 23. März 1940 notierte Feuchtwanger ein Zitat von Hitler: „Ich mag Kriege nicht. Aber ich sehe ihm vieles nach, weil er geschrieben hat: Im Anfang war die Tat.“ Meine Kollegen haben lange gerätselt, wer ist bloß dieser Kriege. Da stand aber gar nicht Kriege, sondern Goethe! Am Anfang war die Tat, das ist aus dem Faust. Da habe ich natürlich jubiliert morgens im Allgäu auf dem Balkon! Solche Missverständnisse sind möglich beim Lesen von Steno-Niederschriften. Und eine Menge davon haben wir gelöst. Auch bei den Recherchen für den Kommentar gab es allerhand zu entdecken: Ein unbekanntes Porträt von Feuchtwanger, die Original-Partitur seiner Pantomime „Pierrots Herrentraum“, zahlreiche journalistische Arbeiten, die im bibliographischen Handbuch nicht verzeichnet sind. Aber es blieb auch ein Rest, mit dem ich nicht fertig geworden bin. Und das nervt natürlich.
Wieso jubelten Sie im Allgäu?
Wir standen mächtig unter Zeitdruck, weil der Band zum 60. Todestag von Feuchtwanger erscheinen sollte. Ich habe den Laptop sogar mit in den Urlaub genommen, was ich noch nie gemacht habe. Ich merkte mit zunehmender Erholung, dass ich mit den komplizierten Stellen immer besser zurechtkam. Die Problemfälle zur Stenografie landeten ja alle bei mir.
Hinter Ihnen liegt also eine riesige Fleiß- und Entdeckerarbeit. Und dann folgten die Kritiken. In einer hieß es: Die Tagebücher seien belanglos.
Ja, und nur für Voyeure interessant. Das schrieb Wilhelm von Sternburg, der eine tolle Biografie über Feuchtwanger publiziert hat. Das fand ich unverständlich. Die Tagebücher sind doch das wichtigste biographische Dokument, das es überhaupt gibt. Allein das kommentierte Personenregister umfasst 100 Seiten: all die Leute, mit denen Feuchtwanger zusammentraf, Bruno Frank, Frank Wedekind, Arnold Zweig, Bertolt Brecht, Erich Mühsam, Theaterleute, Schauspieler, Künstler, aber auch Spieler, Hasardeure und Sexarbeiterinnen. Die Arbeit am Kommentar habe ich mir mit der Slawistin Anne Hartmann geteilt. Insgesamt ist das Medienecho auf die Ausgabe der Tagebücher super, aber man bekommt eben nicht immer die Kritiken, die man sich wünscht.
Diese Veröffentlichung stieß auch wegen der vielen Auslassungen auf harsche Kritik. In dem Buch ist eine Auswahl von etwa 50 Prozent der Tagebücher enthalten, heißt es im Nachwort. Von rund 750 erwähnten „gevögelt“ finden rund 100 Aufnahme, von rund 650 „gehurt“ 40.
Auslassungszeichen lösen verständlicherweise bei den Lesern Misstrauen aus. Die Tagebücher werden sicher später einmal vollständig ediert. Sie jetzt in einer Auswahlausgabe herauszugeben, war eine Entscheidung des Verlages, der ja auch seine Leser im Auge haben muss. Die jetzige Ausgabe umfasst bereits 639 Seiten. In der Frage, was ausgewählt wird, was gestrichen werden kann, gab es verschiedene Auffassungen. Letztlich haben die Herausgeberinnen die Auswahl getroffen.
Gehören diese Tagebücher, die Feuchtwanger ja nur für sich schrieb, wirklich an die Öffentlichkeit, zumal sie das Bild über Feuchtwanger doch sehr verändern?
Geradezu reflexhaft haben sich die Rezensenten auf das Thema Sexualität gestürzt. Michael Naumann titelte in der „Zeit“: „Abends mit Eva gevögelt“. Er war der Meinung, dass dieses Buch eines „Unterleibsprotokollanten“ der Todesstoß für Feuchtwanger sei. Seiner Meinung nach sind das die peinlichsten und zugleich langweiligsten Tagebücher der deutschen Literaturgeschichte. Und die Kürzungen fasst er mit dem Wort „Editionsterror“ zusammen. Peinlich? Langweilig? Rezensionen verraten oft mehr über ihre Autoren als über ihren Gegenstand.
Die Fülle seiner Bettgeschichten lässt schon erstaunen.
Die Menge der Notate Feuchtwangers über sein Sexualleben und auch das Vokabular, das er dafür verwendete, sind befremdlich und verlangen Wahrnehmung und Deutung. Beim mehrmaligen Lesen hat sich das für mich zusehends als etwas herausgestellt, das eben so ist bei Feuchtwanger. Er notierte die Ereignisse seines Alltagslebens, und der Sex gehörte dazu. Er hatte ein völlig unverkrampftes Verhältnis zu seiner Sexualität. Wer hat das schon? Für viele ist das immer noch ein Tabuthema. Mich haben seine Tagebuchnotizen nicht angewidert oder abgestoßen. Ich fand sie einfach nur interessant.
Sie hatten keine Scheu, die Tagebücher mit zu publizieren, obwohl sie in „ihrer sprachlichen Kargheit gelegentlich zur Rohheit verkommen“, wie es im Vorwort heißt?
Feuchtwanger ist ein Autor, der zur Weltliteratur gehört. Er wird bis heute weltweit gelesen. Sein Werk und sein Leben sind Welt-Kulturgut. Eine solche Rezeption verschafft sich früher oder später auch den biografischen Zugang. Was hat der Autor gedacht, wie hat er gelebt? Das ist auch wichtig, um sein Werk zu verstehen. Es ist etwas anderes, eine Biografie zu lesen, als selber die Quellen in die Hand zu nehmen. Ich finde es legitim, die Tagebücher zu publizieren. Und ich finde sie kein bisschen langweilig. Und die Auslassungen erschöpfen sich auch nicht in Redundanz.
In einem Eintrag vom 25. Juli 1910 – Feuchtwanger war damals 26 Jahre alt – schrieb er: „35,- verspielt. Abends mit Marie Förtsch zusammen. Sie nach langem Sträuben gehabt; ziemlich langweilig.“ Das hört sich nach einer Vergewaltigung an.
Das hört sich für mich nicht nach einer Vergewaltigung an. Feuchtwanger war ein relativ kleiner Mann. Im ersten Weltkrieg wurde er bei den Musterungen immer wieder zurückgestellt, weil er einfach zu schwach war. Man kann sich fragen, was die Frauen überhaupt an ihm gefunden haben. Nirgends im Tagebuch habe ich Hinweise auf sexuelle Gewalt gesehen. Aber es kann sein, dass die Frauen das ganz anders sahen. Ihre Stimme haben wir nicht. Es kann sein, dass Feuchtwanger seine Stellung als Theater-Regisseur ausgenutzt hat. Auch wenn man diese Fragen zuverlässig beurteilen will, muss man sich auf eine vollständige Version der Tagebücher stützen.
Auch nach seiner Eheschließung mit der jüdischen Kaufmannstochter Marta Löffler frönte er dem Fremdgehen. Am 7. Juli 1918 notiert er: „Mein Geburtstag. Marta beschenkt mich sehr nett. Ich glaube, die Spuren eines Trippers zu bemerken. Sehr peinlich, weil ich dann wohl auch die Monty und Marta angesteckt hätte.“ Wie hielt Marta diese Eskapaden nur aus?
Marta Feuchtwanger war eine beeindruckende Frau. Ihre Erinnerungen habe ich mit Begeisterung gelesen. Sie war unglaublich tolerant. Aber diese Freizügigkeit, die man sich gegenseitig einräumte, war auch charakteristisch für die Verhältnisse in der Münchner Moderne.
Sind die Tagebücher ein Zeitgemälde?
Sie sind für mich eine anregende, subjektive Zeitreise, nicht nur in die Geschichte der Sexualität. Ich finde es falsch, Feuchtwanger darauf zu reduzieren. Ich konnte erfahren, was für eine Persönlichkeit Feuchtwanger war, wie er zum Künstler wurde, was er las, im Theater sah, im Kino, wie er schrieb, wie sich seine Werke entwickelten, welche Beziehungen er zu anderen Personen hatte, wie er sich in den Wirren seiner Zeit zurechtfand. Er war Zeuge der Novemberrevolution und der Räterepublik, der Machtergreifung Hitlers, des 2. Weltkrieges, des Exils. Er reiste 1936/37 nach Moskau, besuchte einen der Schauprozesse und führte ein Gespräch mit Stalin. Man wird daran erinnert, dass die großen historischen Ereignisse oft aus Alltagsdingen bestanden. Wie hellsichtig hat Feuchtwanger seine Zeit in seinem Roman „Erfolg“ beschrieben. Seine Bücher wurden 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt. Sein Name stand gemeinsam mit Heinrich Mann, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky und vielen anderen auf der ersten Ausbürgerungsliste des NS-Staates vom 25. August 1933. Seine Tagebücher sind ein bewegendes Zeugnis für die Geschichte eines bemerkenswerten Künstlers und seiner Zeit.
Sind die Tagebücher nun der Todesstoß für Feuchtwanger?
Nein, das glaube ich nie und nimmer.
- Das Gespräch führte Heidi Jäger
>>Am Sonntag, 24. Februar, 11 Uhr werden die Tagebücher in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47 vorgestellt. (Lion Feuchtwanger: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Aufbau Verlag, 2018,Hardcover, 640 Seiten.)
ZUR PERSON: Klaus-Peter Möller, geb. 1960 in Parchim, studierte in Sofia und Potsdam, arbeitet seit 1998 im Fontane-Archiv als Archivar, schrieb „Der wahre E“, das Wörterbuch zur DDR-Soldatensprache. Er lebt in Potsdam.
Heidi Jäger