Corona-Betrieb im Hans Otto Theater: Kleist hinter Drahtseilen
Um die ausfallenden Vorstellungen auszugleichen, lesen die Schauspieler des Potsdamer Stadttheaters derzeit Texte für die Kamera ein - und zeigen besondere Ecken des Hauses.
Potsdam - Henning Strübbe sitzt hinter Gittern. Zumindest erwecken die dicken Drahtseile auf dem Schnürboden des Hans Otto Theaters (HOT), die sich von der Decke bis hinunter zur Bühne spanen und hinter denen der Schauspieler sich befindet, diesen Anschein. Mit ihrer Hilfe werden normalerweise Bühnenbilder bewegt, vergangene Woche wurden sie selbst zur Kulisse. Für ein Lesungsvideo, das hier mit Strübbe aufgenommen wird.
Um den ausfallenden Spielbetrieb - wegen der Coronakrise sind alle Proben und Vorstellungen abgesagt - etwas auszugleichen, bespielt das HOT derzeit verstärkt seine Social-Media-Kanäle. Jeden Tag sind dort Videos in unterschiedlicher Länge zu sehen. Angefangen hat das Projekt mit Einblicken in den Home-Office-Alltag der Ensemblemitglieder, inzwischen lesen die Schauspielerinnen und Schauspieler regelmäßig Texte vor laufender Kamera. Der Clou: Die Lesungen finden an Orten im Theater statt, die Besucher sonst nicht sehen dürfen. Im Spritzraum wurde schon gedreht, in der Wäscherei oder in der Garderobe - und nun auf dem Schnürboden.
Texte müssen kostenfrei verwandt werden können
Strübbes Kollegin Kristin Muthwill gab wohl den Anstoß zu diesem Format. Die Schauspielerin startete mit Wilhelm Buschs „Max und Moritz“. Inzwischen sind mehrere Lesungen online, Texte von Goethe sind dabei, von Kleist oder Büchner. „Es müssen Texte sein, die wir kostenfrei verwenden können“, sagt HOT-Intendantin Bettina Jahnke. Zusätzliche Ausgaben kann sich das Theater derzeit nicht leisten, da die Einnahmen fehlen. Das sei auch der Grund, weswegen keine vollständigen Inszenierungen online gestellt werden können. „Die Streamingrechte kosten je nach Text zwischen 1000 und 4000 Euro“, sagt Jahnke. Trotzdem geht es dem Stadttheater besser als den freien Künstlertruppen: alle Angestellten werden weiterhin voll bezahlt.
Für die Schauspieler ist es nichtsdestotrotz hart: „Ich fühle mich als hätte ich Berufsverbot“, sagt Henning Strübbe. Die PNN treffen ihn, Bettina Jahnke und den technischen Direktor des Hauses, Matthias Müller vergangene Woche Donnerstag vor Ort – selbstverständlich mit Sicherheitsabstand, Gesichtsmaske und sogar Handschuhen. An diesem Tag hätte eigentlich das Stück „Der Vorname“ Premiere gehabt, in dem Henning Strübbe eine Hauptrolle spielt. Ein kleiner Ausschnitt mit ihm und seinen Kollegen ist online zu sehen: Die Schauspieler haben eine Szene jeweils einzeln zu Hause gedreht, die Videos wurden dann zusammengeschnitten. Statt sich also auf die Premiere vorzubereiten, liest er nun „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist ein. Die Lesung wird am Samstag, 18. April ab 19.30 Uhr auf dem YouTube-Kanal des Hans Otto Theaters zu sehen sein.
Störgeräusche gilt es zu vermeiden
Die Freude endlich wieder im Theater zu sein, ist Strübbe anzusehen. „Mit der Einstellung des Spielbetriebs ist ein zentraler Punkt meines Seins weggebrochen“, sagt er. Nicht zu wissen, wann es weitergehe sei unangenehm und die Kollegen vermisse er auch. Genauso wie das Publikum: „Der direkte Bezug zu den Zuschauern ist einfach so wichtig.“ Viel Publikum hat er beim Einlesen seines Textes nicht. Darf er auch nicht haben, denn das Mikrofon, das den Ton aufnimmt ist hoch empfindlich und nimmt jedes Rascheln, jedes Tischwackeln, jeden Schritt auf. „Die Störgeräusche müssen hinterher entfernt werden, das ist dann wieder sehr aufwendig“, sagt Bettina Jahnke. Mehrere Stunden dauert die Postproduktion der Videos, die oft auch geschnitten werden müssen. Bei einer Lesung mit Schauspielerin Rita Feldmeier seien sie beispielsweise mehrmals von vorbeifahrenden Feuerwehrautos gestört worden. „Da mussten wir immer wieder unterbrechen.“
Bevor die eigentliche Aufnahme losgeht, wird also der Ton geprobt, Matthias Müller und sein zweiköpfiges Technikteam achten auf jede Kleinigkeit. „Ist das das lauteste, was du kannst?“, wird Strübbe gefragt und muss noch einmal ansetzen. Fünf bis sechs Mal hat er den Text zu Hause Probe gelesen, jetzt erklingt er mit diesem speziellen Fluss in der Stimme, den nur Schauspieler erzeugen können. Einnehmend klingt das, eindrucksvoll, doch schon muss er wieder unterbrechen. Bevor die eigentliche Aufnahme startet, dreht Bettina Jahnke noch ein kleines Ankündigungsvideo mit dem Handy für Instagram. Dafür lässt sie Henning Strübbe die steile Treppe zum Schnürboden noch einmal extra hochgehen – ein bisschen Inszenierung muss sein.
Keine Vorstellungen mehr in dieser Spielzeit
Als die eigentliche Lesung startet, müssen wir den Schnürboden verlassen, dafür zeigt uns Matthias Müller andere geheime Orte des Theaters: Die Beleuchterbrücke über dem Zuschauerraum beispielsweise, auf dem Schauspieler David Hörning einen Text lesen wird. Oder den Raum unter der Zuschauerpodesterie, in dem sich eine kleine Treppe befindet, auf der wahrscheinlich ein Text von Franz Kafka eingelesen werden wird. „Hier herunter fallen oft die Handys aus den Hosentaschen der Zuschauer“, erzählt Matthias Müller. Meistens seien sie dann auch kaputt und nicht mehr zu gebrauchen.
So spannend es ist, diese Orte zu sehen - ein bisschen gruselig ist dieses stille Theater schon. Dort wo sonst Proben stattfinden, auf und hinter der Bühne gewerkelt wird, wo eigentlich immer Bewegung in den Gängen und in der Mensa ist, ist es derzeit absolut ruhig. „Das Summen und Brummen fehlt mir“, sagt auch Bettina Jahnke. Die meisten Mitarbeiter arbeiten derzeit im Home Office, lediglich in den Werkstätten seien vereinzelte Kollegen vor Ort. In der Schneiderei werden beispielsweise Gesichtsmasken genäht.
Alle Premieren, die noch in dieser Spielzeit bis zum 26. Juni hätten stattfinden sollen, werden auf die nächste Spielzeit verschoben. Vergangene Woche hoffte Jahnke noch darauf, wenigstens das Sommer-Open-Air-Stück „Der Diener zweier Herren“ von Carlo Goldoni zum Ende der Saison aufführen zu können. Doch mit der jüngsten Ankündigung, dass Großveranstaltungen bis mindestens Ende August nicht möglich sein werden, muss wohl auch das verschoben werden. „Ich fühle mich ein bisschen wie die Kapitänin auf dem sinkenden Schiff“, sagt sie, lacht allerdings noch dabei. Aber es sei ihr wichtig weiterhin präsent zu sein, auch um das Zusamengehörigkeitsgefühl aufrecht zu erhalten – und den Theaterbetrieb zumindest im Kleinen weiter zu führen.