Ein Überblick samt Buchtipps: Jetzt ist Lesezeit, Potsdam!
Die Potsdamerin Antje Rávik Strubel ist für den Buchpreis nominiert. Aber auch sonst tut sich einiges in der Literaturstadt Potsdam.
Potsdam - Wenn das Orakel in der Brandenburger Straße recht behält, geht der Deutsche Buchpreis, der wichtigste der Branche in diesem Land, am 18. Oktober an die Potsdamer Autorin Antje Rávik Strubel. Das Orakel heißt mit bürgerlichem Namen Carsten Wist und beansprucht für sich, eine Trefferquote von einhundert Prozent zu haben. In den vergangenen Jahren, sagt er, habe er nie falsch gelegen. Alle Preisträger:innen hatten zuvor in seiner Buchhandlung, die nach Inhaber Carsten Wist benannt ist, eine Lesung abgehalten – oder zumindest eine geplant.
Der Besuch der letztjährigen Gewinnerin Anne Weber wurde coronabedingt vor wenigen Wochen erst nachgeholt – und auch darauf, dass Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ihren letzten „normalen“ Tag vor der Bekanntgabe in Potsdam verbrachte, ist Carsten Wist stolz. Das für die Lesungsgäste gebuchte Hotel-Zimmer um die Ecke heißt seitdem intern „ Tokarczuk-Suite“.
Neue Ära für Buchhändler Carsten Wist
In dem Potsdamer Buchladen steht eine neue Ära ins Haus, und wenn man Carsten Wist fragt, dann gilt das auch für die Literaturstadt Potsdam insgesamt. Felix Palent, der seit 2014 gemeinsam mit Carsten Wist das Programm gestaltete, geht nach sieben Jahren seiner eigenen Wege. Palent hat eine Buchhandlung in Berlin übernommen, als Nachmieter des traditionsreichen Standortes in der Charlottenburger Knesebeckstraße 11. „Eine natürliche Sache, wenn der Thronfolger nachrücken und der Monarch noch nicht abtreten will“, sagt Carsten Wist über den Weggang. Er ist 65 – ans Aufhören denkt er noch lange nicht.
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Für ihn heißt das: Sein seit rund dreißig Jahren bestehender Buchhandel geht in eine neue Phase über – wieder einmal. Wist hat den Phasen Namen gegeben: Zu Anfang, ab 1990, war da die Rock’n’Roll-Zeit mit Co-Gründer Siegfried Ressel. Die dauerte zehn Jahre, dann kam die Phase, in denen er den Laden allein führte, auch zehn Jahre. Dann kam Felix Palent und damit das, was Wist die „olympische Phase“ nennt. Mit Palent gelang 2020, was seit Jahren das Ziel gewesen war: Gold holen beim jährlichen Buchhandlungspreis. Dafür gab es viel Aufmerksamkeit und 25.000 Euro Preisgeld.
Potsdam literarisch keine Brache, aber „auch noch kein Paradies“
Auch wenn Gold die Krönung war: Potsdam hatte davor schon die größte Dichte an nominierten Buchläden bundesweit, sagt Wist. Potsdam ist Literaturstadt, ganz klar, was auch, das betont er, an den vielen wirklich interessierten Lesern liegt. Also nein, „Potsdam ist literarisch beileibe keine Brache.“ Aber, sagt Wist, „auch noch kein Paradies“. Noch. Etwas ändert sich gerade in dieser Stadt, und vielleicht steht die Nominierung der Potsdamer Autorin für den wichtigsten Buchpreis des Landes symbolisch genau dafür ein.
Ebenso wie das Festival Lit:potsdam, das in seinem neunten Jahr als erstes Literaturfestival wieder eine Präsenzveranstaltung wagte und damit für viel mediale Aufmerksamkeit sorgte. Künftig wird es von Thomas Böhm geleitet, zuvor für die Programme des Literaturhauses Köln und das Internationale Literaturfestival Berlin zuständig. Vielleicht ist Potsdam gerade dabei, sich von „Keine Brache“ erheblich in Richtung literarisches „Paradies“ zu wenden. Vielleicht beginnt in Potsdam gerade, was der Buchladen von Carsten Wist schon hinter sich hat: die olympische Phase.
„Blaue Frau“ berührt alle wichtigen Fragen unserer Zeit
Antje Rávik Strubel hatte zwar keine Lesung im Salon des Literaturladens von Carsten Wist, aber sie stellte Anfang August ihr neues Buch „Blaue Frau“ im Garten der Villa Quandt vor, die mit Wist kooperiert. Das qualifiziert dennoch für den Buchpreis, findet Wist. Und jenseits aller orakelnden Algorithmen: Antje Rávik Strubel hätte die Auszeichnung ganz einfach verdient, das sagt auch Wist.
„Blaue Frau“ ist ein Werk, an dem die Autorin acht Jahre lang schrieb, es berührt alle wichtigen Fragen unserer Zeit. Die Frage nach Herkunft und was diese mit uns macht, nach sexueller Identität und den Zuschreibungen, die damit einhergehen. Die Frage danach, wie man diesen und anderen Zuschreibungen entgehen, sich erzählend selber „schreiben“ kann. Die Frage nach dem, was die politische Wende 1989 mit diesem Kontinent namens Europa gemacht hat, was „ost“ und „west“ heute bedeuten – und wie historische, menschliche Traumata überwunden werden können. Und nicht zuletzt: „Blaue Frau“ stellt die Frage, ob oder wie man als Autor:in schreiben kann, ohne seinem Subjekt die Würde zu nehmen.
Das vielleicht Wichtigste aber: „Blaue Frau“ zeigt, dass Literatur all das leisten kann, ohne überfrachtet zu wirken. Das Buch ist fesselnd, klug, poetisch, es ist voller genauester Beschreibungen – und lässt sich am Ende trotzdem nicht ganz fassen. „Blaue Frau“ ist ein Meisterinnenwerk.
Preisträger mit Potsdam-Bezug
Antje Rávik Strubel wäre die erste Potsdamer Autorin, die den Deutschen Buchpreis gewinnt – aber nicht die erste mit starkem Potsdam-Bezug. Eugen Ruge, der ihn vor zehn Jahren für „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erhielt, ist in Babelsberg aufgewachsen, arbeitete später im Geophysikalischen Institut auf dem Telegrafenberg und siedelte große Teile seines Romans in Potsdam an. Als „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ 2018 in Potsdam auf die Theaterbühne kam, sagte er: „Ich fühle mich schon ein bisschen wie der verlorene Sohn, der wiederkehrt, aber nicht bemerkt wird.“
Und Lutz Seiler, Buchpreisträger von 2014 für seinen großen Erfolg „Kruso“, leitet nach wie vor das literarische Programm des Peter-Huchel-Hauses in Wilhelmshorst. Das gehört zu Michendorf, liegt aber nah genug, um noch dem Potsdamer Dunstkreis zugerechnet zu werden.
Dabei muss man sich geografisch gar nicht so sehr verrenken, um in dieser Stadt literarisch fündig zu werden. In diesem Jahr ist bereits ein neuer Roman von John von Düffel erschienen, ein aktueller Text, so aktuell allerdings, dass er wie mit heißer Nadel gestrickt wirkt. „Die Wütenden und die Schuldigen“ erzählt von Verwerfungen in Berlin und Brandenburg während der Corona-Pandemie. Helga Schütz, deren autobiografisches Werk „Sepia“ landauf landab, als stilles Meisterwerk gefeiert wurde, bringt in diesem Herbst ein neues Buch heraus („Heimliche Reisen“).
Dann ist da noch Julia Schoch, deren Text „Der Ritt durch den Feind“ ihr 2005 eine Einladung zum Bachmann-Preis bescherte und den Jury-Preis eintrug. Über „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ vier Jahre später hieß es „fulminant – bis in den Kältetod“, auch wenn Schoch selbst mit Temperaturangaben in der Literatur wenig anfangen kann. „Schöne Seelen und Komplizen“ (2018) war, neben vielem anderen, auch ein Potsdam-Roman, auch wenn Schoch ihr Schreiben nie aufs Lokale verkleinert sehen will. In diesem Sommer erschien erneut eine Übersetzung aus dem Französischen: „Mit uns wäre es anders gewesen“ von Éliette Abécassis.
Franzen-Übersetzerin lebt in Potsdam
Mit Bettina Abarbanell lebt auch eine der namhaftesten literarischen Übersetzerinnen aus dem Englischen in Potsdam, und zwar schon lange, seit 1997. Abarbanell ist für die deutschen Ausgaben des US-amerikanischen Bestseller-Garanten Jonathan Franzen zuständig, sein jüngster Roman „Crossroads“ ist erst vor wenigen Tagen erschienen. Und Helmut Krausser, dessen jüngster Roman „Für die Ewigkeit“ letztes Jahr erschien, lebt zumindest halb in Potsdam – die andere Hälfte verbringt er in Rom.
Und nicht nur Antje Rávik Strubel kann im Übrigen auf eine Auszeichnung in diesem Herbst hoffen. Auch die ungemein produktive Grit Poppe, Tochter des Bürgerrechtlers Gerd Poppe und um 1990 selbst in der Bürgerbewegung aktiv, ist für einen prestigereichen Preis nominiert: Ihr Jugendroman „Verraten“ über eine Jugend in Umerziehungsheimen der DDR steht auf der Liste für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021. Vergeben wird er am 22. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse. Statt darauf zu warten, hat Grit Poppe längst ihr nächstes Buch geschrieben: Am 26. Oktober stellt sie in der Gedenkstätte Lindenstraße das Sachbuch „Die Weggesperrten“ vor, geschrieben mit ihrem Sohn Niklas Poppe.
Literaturladen 4.0?
Wie diese neue Phase heißt, die gerade im Literaturladen von Carsten Wist beginnt, weiß der Buchhändler noch nicht. Er weiß nur, dass es die Salons weiterhin geben soll, und auch die Lesungen im Stadtraum, in der Villa Quandt, im Kunstraum und in der Stadt- und Landesbibliothek. Unterstützung bekommt er jetzt von der erfahrenen Buchhändlerin Irmela Fenner und Gereon Wemhoff als studentischer Hilfskraft. Vielleicht komme ja jetzt die „aristokratische Phase“, sagt Carsten Wist. Oder „Literaturladen 4.0“?
Die volksbühnenhaft verspielte Form der Anarcho-Lesung, die Wist mit Felix Palent perfektionierte, wird es so nicht mehr geben. Auch wenn Elemente wie die Musik (kürzlich bei Anne Weber lief Billie Eilish) natürlich bleiben sollen: „Ein neuer Stil muss her.“ Vielleicht ja im neu gestalteten „Kabinett“, dem Hofgarten der Buchhandlung? Mit der großen neuen Wandtapete und den Birkenstämmen fühlt er sich mehr und mehr wie eine Tschechow-Figur, sagt er. Eher Großgrundbesitzer oder versoffener Akademiker? Carsten Wist überlegt noch. Am besten wäre von allem etwas.