Potsdamer Autorin für Jugendliteraturpreis nominiert: Wie ein Land seine Kinder verriet
Grit Poppes Roman „Verraten“ erzählt davon, wie ein Jugendlicher in die Fänge der Stasi gerät. Dafür wurde die Potsdamer Autorin für den Jugendliteraturpreis nominiert.
Potsdam - An Autoren, die sich mit der DDR befassen, mangelt es in der deutschen Erwachsenenliteratur nicht. Uwe Tellkamp und Eugen Ruge gewannen mit DDR-Romanen den Deutschen Buchpreis. Das Thema Staatssicherheit ist in jenen Geschichten so omnipräsent, wie es deren Mitarbeiter einst waren, wenn sie etwa in ihren Trabis vor den Haustüren standen, um Menschen auszuspionieren.
Mit perfiden Methoden für die Stasi rekrutiert
Wenn nun in dem neuesten Roman der Potsdamer Autorin Grit Poppe die Stasi eine Rolle spielt, ist das dennoch etwas Neues – denn „Verraten“ ist ein Jugendbuch. Hier geht es nicht um Erwachsene, sondern um einen Minderjährigen, der vom DDR-Geheimdienst mit perfiden Methoden rekrutiert wird. Dass die Autorin damit ein bislang wenig präsentes Thema in der Literatur aufgreift, findet Beachtung: Ihr Buch wurde jüngst für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, der traditionell im Herbst im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen wird.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 16-jährige Sebastian, der sich im Durchgangsheim Bad Freienwalde wiederfindet. Seine Mutter ist tot, seine Großmutter, bei der er zuvor gelebt hatte, musste ins Altersheim und zu seinem Vater gab es nie Kontakt. Bad Freienwalde gleicht einem Gefängnis: Die Fenster sind vergittert, es ist dunkel, dreckig und kalt, die Erzieher sind unfreundlich, gemein und schrecken auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück. Hier lernt Sebastian die 17-jährige Katja kennen, ein Mädchen, das immer wieder aus Heimen ausreißt. Aus den Perspektiven der beiden wird die Geschichte erzählt. Ihr Ton ähnelt sich, was aber nicht negativ ins Gewicht fällt. Der Roman liest sich insgesamt sehr flüssig.
Eines Tages taucht überraschenderweise Sebastians Vater auf – ein für ihn fremder Mann. Katja versteckt sich in dessen Auto und flüchtet mit nach Berlin. Sebastian, der nun bei seinem Vater in Prenzlauer Berg wohnt, richtet ihr ein Versteck auf dem Dachboden ein. Seine Angst, dabei erwischt zu werden und wieder in ein Heim zu müssen, ist groß. Gleich am ersten Tag in der neuen Schule wird Sebastian in das Büro des Direktors bestellt, wo ein Herr Möller von der Stasi auf ihn wartet. Von ihm erfährt er, dass sein Vater aus politischen Gründen vier Jahre im Gefängnis war. Sebastian wird immer wieder zu Treffen mit Herrn Möller gedrängt und verpflichtet sich schließlich dazu, als Inoffizieller Mitarbeiter seinen Vater zu bespitzeln.
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Die menschenunwürdigen Zustände in DDR-Jugendheimen hat Poppe bereits in ihren Romanen „Abgehauen“, „Weggesperrt“ und „Schuld“ in den Fokus gerückt. Auch in „Verraten“ spielen diese wieder eine Rolle, aber nicht mehr so vordergründig. Vielmehr geht es um die Traumatisierung, die Sebastian durch seinen Heimaufenthalt durchmacht und die schließlich dazu führt, dass die Stasi ihn zum Spitzel machen kann.
Und Herr Möller von der Stasi weiß, wie es Sebastian geht. Mit Berechnung ist er einerseits sehr freundlich zu ihm, zeigt sich mitfühlend und spricht in den höchsten Tönen von dessen toter Mutter: „Ich kann dir sagen, dass sie vermisst wird. Niemand, der sie gut kannte, wird sie je vergessen.“ Andererseits übt er gezielt Druck aus, um ihn dazu zu bringen, ihm über seinen Vater Bericht zu erstatten: „Natürlich wollen wir doch alle nicht, dass du wieder in das Durchgangsheim eingewiesen wirst, oder?“ Sein Vater müsse resozialisiert werden, und ein Gelingen läge in Sebastians Verantwortung.
Eindrücklich, ohne zu überfordern
Sehr überzeugend ist, wie Poppe den Konflikt darstellt, in den Sebastian durch seinen Bespitzelungsauftrag gerät. Es ist leicht, den Veränderungen, die er durchmacht, zu folgen – wie sich zunehmend eine Wut in ihm ansammelt, die sich dann in Ungerechtigkeit gegenüber Katja, die er sehr mag, entlädt. Für ihre Geschichte hat die Autorin intensive Recherche betrieben, und so findet sich im Anhang des Buches auch ein Interview mit Christian Ahnsehl, der selbst als 15-Jähriger in die Fänge der Stasi gelangt ist. Eine Stärke ist auch, wie Poppe in kleinen Sequenzen Sebastians Leid sichtbar macht, den Zusammenbruch im Sportunterricht etwa. Auf diese Weise schafft sie es, eindrücklich zu sein, ohne den jugendlichen Leser zu überfordern. Das Buch ist ab 14 Jahren empfohlen.
Und doch ist es insgesamt schwer zu ertragen, was Sebastian widerfährt. „Außenseiter. Fremdling. Heimkind. Halbwaise. Sohn eines Knackis und Alkoholikers“, so beschreibt er sich an einer Stelle selbst. Und weil sich niemand wirklich für den Jungen interessiert, weder Lehrer noch Erzieher, bekommt der Buchtitel „Verraten“ eine doppelte Bedeutung. Nicht nur Sebastian verrät seinen Vater, indem er ihn bespitzelt – auch er wird verraten, von einem System, das Jugendliche eigentlich beschützen sollte.
Dass der Roman ein wenig Geschichtswissen voraussetzt, ist zweischneidig – einerseits eignet es sich wunderbar für den Schulunterricht, andererseits ist fraglich, ob Jugendliche von allein danach greifen. Zu hoffen ist, dass sie es tun. Denn Grit Poppe ist ein wichtiges, sehr spannend zu lesendes Stück Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der DDR gelungen.
Grit Poppe: "Verraten."; Dressler Verlag, Hamburg 2020, 340 Seiten, 12 Euro.
Andrea Lütkewitz
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