Literaturkritik im Radio: Jede Stimme zählt
Wollen die öffentlich-rechtlichen Sender die Literaturkritik künftig massiv einschränken? Neue Erkenntnisse zur Debatte im WDR.
Bis vor Kurzem war die Debatte um die Zukunft der Literaturkritik im Kultursender WDR3 für Außenstehende insofern verwirrend, als unklar blieb, um was es dabei eigentlich ging. Sollten wirklich 250 Rezensionen, gesendet im Morgenmagazin „Mosaik“, wegfallen, ersatzlos oder zugunsten von flotten Buchtipps und gefälligen Autoreninterviews? Das befürchteten die betroffenen freien Rezensenten (zu denen auch ich gehöre), alarmiert durch eine Mail ihres WDR-Literaturredakteurs, weshalb sie mit einem offenen Brief und einer Online-Petition für den Erhalt der täglichen Buchkritik protestierten.
Oder war alles nur ein großes Missverständnis infolge einer „unabgestimmten Mail“, da die „Literaturberichterstattung bei WDR 3“ ja gar „nicht zur Diskussion“ stand, wie der WDR-3-Programmchef Matthias Kremlin umgehend verkündete? Und es dem Sender von Anfang nur um resonanzstärkere Sendezeiten und abwechslungsreichere, innovativere Formate gegangen sei, also genau genommen darum, die Literatur im WDR zu stärken?
Wer die Debatte verfolgte, bekam den Eindruck, dass die Äußerungen des Programmverantwortlichen die Gemüter nicht gerade beruhigen konnten, jedenfalls trommelte bald nicht nur das überregionale Feuilleton für den Erhalt der Literaturkritik beim WDR, sondern auch die versammelte deutsche Verlegerriege und Literaturinstitutionen wie der LiteraturRat NRW, das „Börsenblatt“ oder der Börsenverein des deutschen Buchhandels. Von den über 6000 Unterzeichnenden der Online-Petition zu schweigen.
Letztlich geht es nicht nur um den WDR
Die Vorstellung, dass ein gebührenfinanzierter Rundfunksender in einer Zeit, in der man außer lesen eh kaum noch etwas machen kann, der Literatur und ihrer Kritik an den Kragen gehen könnte, erschien einfach zu unglaublich.
Dank einer Diskussion im Literaturhaus Köln muss man inzwischen leider sagen: Es geht um mehr als das WDR-Morgenmagazin. Und das, obwohl die Vertreter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bei ihren Ausführungen möglichst vage blieben, während die Literaturkritikerin Insa Wilke, Mitinitiatorin des Offenen Briefs und der Online-Petition, und die KiWi-Verlegerin Kerstin Gleba tapfer für den Erhalt der wenigen verbliebenen literaturkritischen Räume im Rundfunk (und anderswo) stritten.
Alf Mentzer, Kulturverantwortlicher des HR, dessen neue „Kultur-Unit“ dem WDR offenbar als Vorbild dienen soll, bezeichnete die geplanten Änderungen als „Prozess“, mit dem Ziel, ein jüngeres Publikum zu erreichen, darunter solch offenbar radioferne Subkulturen wie die LGTBQI-Community; auch für Volker Schaeffer, Leiter der Programmgruppe Kulturraum beim WDR, der die Debatte einmal mehr zum Missverständnis erklärte, war klar, Literaturkritik im Rundfunk könne künftig „nur digital sein“, weil die „Publika“ („ich spreche ganz bewusst von Publika“) heute eben nicht mehr „in Pfötchenstellung“ vor dem Radiogerät verharrten, das Radio zum „Begleitmedium“, zur „Tapete“ geworden sei und das WDR-Morgenmagazin „Mosaik“ mit 15 000 Hörern längst nur noch in die Bedeutungslosigkeit sende.
Reicht eine Kritik, die dann alle ARD-Wellen senden?
Während man noch darüber grübelte, wer eigentlich festgelegt hatte, die tägliche Buchkritik vor dem Frühstück zu senden, und inwiefern die Digitalisierung das Radio retten könnte – schließlich sind die Buchkritiken des WDR wie bei allen Sendern längst online nachhör- und lesbar –, wurden Schaeffer und Mentzer in einer Hinsicht konkret.
Künftig könnte es genügen, wenn nicht mehr jede der ARD-Landesrundfunkanstalten in ihren jeweiligen Kulturwellen „den neuen Mosebach“ oder „den neuen Houellebecq“ besprechen lasse, zwei Rezensionen wären doch ausreichend. Selbstverständlich nicht, um zu sparen, sondern um auf diese Weise mehr Kapazitäten für die Literatur bislang ignorierter Zielgruppen zu schaffen.
Vielleicht wird also bald schon „der neue Mosebach“ nur noch von einem Kritiker, des, sagen wir, Hessischen Rundfunks besprochen, WDR, SWR, rbb, MDR usw. bräuchten nur noch nachzusenden. Eigentlich bestechend und im Lokaljournalismus längst gang und gäbe.
Zu Houellebecq kann man verschiedene Meinungen haben
Wer für sein Heimatblatt rezensiert, wundert sich immer wieder, in welchen Zeitungen im Umkreis sein Beitrag auch noch erscheint, ohne zusätzliches Honorar natürlich, einfach weil immer mehr Zeitungen immer weniger Medienhäusern angehören und eine Zentralredaktion dann den einen Inhalt in die verschiedenen Zeitungsschläuche gießt. Wer weiß, vielleicht erkennt bald ja auch das überregionale Feuilleton diesen Trend?
Sind nicht aber Martin Mosebach und Michel Houellebecq Autoren, zu denen man sehr unterschiedliche Meinungen haben kann? Dass gerade diese Namen genannt wurden, kann einen daher zu dem Schluss bringen, dass es um die Zukunft der Literaturkritik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk schlimmer steht als bislang angenommen.
Literaturkritik lebt wesentlich von Vielstimmigkeit, vom Diskurs. Nie ist sie so lebendig wie in einer richtigen Debatte. Eine Kritik, die Prawda-like „die“ Meinung der ARD-Anstalten zum neuen Houellebecq verkündet, wäre keine mehr, könnte aber bald jenem Zerrbild ähneln, das die Verächter der „Mainstream-Medien“ jetzt schon an die Wand malen. Aber da von Programmverantwortlichen in internen Konferenzen mit freien Rezensenten auch schon Vorbehalte gegenüber Verrissen geäußert wurden, passt das vielleicht ganz gut.