"Gehen oder Der zweite April": Gefeierte Theater-Premiere am HOT
Bravo-Rufe bei der Uraufführung: Am Hans-Otto-Theater wurde das Stück "Gehen oder Der zweite April" vom Publikum gefeiert: Ein berührendes Stück, wunderbare Schauspielkunst und poetische Bilder.
Potsdam - Ihr letzter Tanz ist ein Lachen. Ausgelassen wie Kinder nehmen sie sich an die Hand, drehen sich im Abgesang des leisen Rock’n’Rolls. Statt Kerzen stellen Lore und Arno Tischlampen mit Stofffransen auf den Boden, die ihnen die letzten Meter wohnlich ausleuchten. Nichts soll anbrennen. Auch daran haben die beiden gedacht. Drei Jahre schon verfolgt das Paar nach 50 gemeinsamen Ehejahren ihren Gedanken an den Freitod. Nun haben sie ihren Giftcocktail getrunken, der sie schmerzfrei erlösen soll: von der zunehmenden Alzheimer-Krankheit, die Arnos Gedächtnis aufweicht, von Lores Angst vor einem Leben „danach“, wo alles nur Erinnerung ist.
Doch mit diesem friedlichen Bild des Abschieds, das an Michael Hanekes Filmgemälde „Liebe“ erinnert, wird das Publikum im Hans Otto Theater nicht entlassen. Autor Jean-Michel Räber, dessen Stück „Gehen oder Der zweite April“ am Freitag in Potsdam uraufgeführt und mit Bravos gefeiert wird, schiebt ein zweites, nicht einkalkuliertes Ende nach. Was ein neues Thema aufmacht. Noch eins.
„Ihr seid Monster!“
Dieses Stück ist prallvoll davon, denn es sticht hinein ins Wespennest Familie, in all die unausgesprochenen Verletzungen, die sich über Jahre aufstauen und sich nun – im Angesicht des Todes – Bahn brechen. Bevor Lore und Arno am zweiten April, ihrem Kennenlerntag, die Welt verlassen wollen, weihen sie ihre drei Kinder in das Vorhaben ein. „Ihr seid Monster!“, schreit Tochter Anna (Katja Zinsmeister) fassungslos. Denn natürlich sehen die Geschwister in dem Abschied der Eltern, die doch immer für die Kinder, für die Enkel dazu sein haben, einen Affront. Gegen sich, gegen die vertraute Sicherheit, gegen ihre eigenen Gefühle und Ansprüche. „Wenn Anna die berühmte Geigerin wäre, ich der berühmte Architekt, Jule, die berühmte Pädagogin, hättet ihr uns nie verlassen, weil ihr stolz auf uns wärt, weil wir euch etwas bedeuten würden!“, bricht es aus Sohn Jan heraus, der sich ansonsten in seinem Zynismus vergraben hat. Nein, die Drei haben es nicht bis ganz nach oben geschafft, sind Mittelmaß geblieben – erfüllten vielleicht nicht die Hoffnungen der Eltern. Vielleicht. Auch darüber wurde nie gesprochen.
Arne Lenk gibt diesem Jan sehr kantige Züge, unter denen weiche Konturen vage durchscheinen. Seine Giftpfeile, die er kreuz und quer am Küchentisch abschießt, durchlöchern die todesgeschwängerte Luft, sorgen für befreiende Entladung. Diese Inszenierung von Frank Abt findet die richtige Balance, um nicht gefühlsüberladen in Betroffenheit zu ersticken. Dafür sorgen auch die wunderbar agierenden Schauspieler Rita Feldmeier und Joachim Berger, die die Symbiose des zusammen alt gewordenen Paares in großer Gelassenheit, ja auch Heiterkeit erzählen. Da war auch ein Fremdgehen, als sich Arno seiner Schwägerin näherte und beide von Lore auf frischer Tat ertappt wurden. Nach so vielen Jahren kann Lore ganz gelassen darüber sprechen. Dass aber Arno Tochter Jule mal als Miss Piggy bezeichnet hat und Jule ihre seelischen Blessuren bis heute in sich trägt, das hat Lore erst jetzt erfahren: in dieser letzten Beichte.
Es wurde über viele Kränkungen hinweg geschwiegen. „Warum rufst du nie an?“, fragt Lore ihre Jule. Und ihre Jüngste (blutvoll gespielt von Laura Maria Hänsel) antwortet: „Und warum rufst du nie an?“ „Weil ich denke, das Falsche zu fragen“, entgegnet Lore. Es steckt viel drin in den kurzen Dialogen, die den Zuschauer immer wieder ins eigene Leben führen.
Immer wieder ein Innehalten
Lore und Arno sind kein Bilderbuch-Ehepaar. Aber sie lieben sich, können einander verzeihen. Und wissen bis zuletzt nicht, welche Farbe der andere am meisten mag. Judith Mähler hat für diese Familienaufstellung zwei fast lebensgroße Puppen gebaut, die immer wieder mit ins Spiel kommen: Am Anfang sitzen sie allein am Bühnenrand. Blass und geisterhaft. Vom Leben verweht. Wie Erinnerungen. Herbstblätter fallen. Der Musiker Francesco Wilking singt: „Alles geht vorüber. Nichts ist je vorbei.“ Die Texte stammen von ihm selbst und von seinem Kollegen Moritz Krämer. Ihre Musik untermalt und durchbricht den Abend, ist reger Mitspieler. Joachim Berger schlurft derweil als zersauster, fahrig-kauziger Arno, der seine Korrektheit und Strenge noch immer mit sich trägt, leicht gebeugt zu „seiner“ Puppe. Er reicht ihr die Hand. Ein poetisches Bild. Das Verschmelzen mit den Puppen fügt eine neue Ebene hinzu: das Imaginäre zwischen Irgendwann und nicht mehr. Doch nicht immer erschließt sich dieses Spiel sofort, so wenn Enkelin Emma (Josefa Heinsius) in die „Puppen-Haut“ von Lore schlüpft. Sie ist das Bindeglied zwischen den Generationen, steht für das Weiterleben. Aber dieses häufige Auftauchen von Emma, die Sätze parliert, um Situationen zu beschreiben, durchbricht auch den Spielfluss, der gerade am Anfang zerfasert: auch um die aufgeheizte Stimmung des Familientreffs zu spiegeln. Durch die Drehbühne von Michael Köpke wird sie zusätzlich angekurbelt. Aber es gibt immer wieder ein Innehalten, so wenn Lore allein mit ihren Gedanken an die Probleme der Kinder in der Küche sitzt.
Es werden viele Fragen aufgeworfen, Haltungen hinterfragt. Was habe ich für ein Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, über andere zu richten? Damit bleibt der Zuschauer am Ende allein. So wie die Protagonisten auf der Bühne. Was er mit nach Hause nimmt? Ein berührendes Stück, getragen von einer wunderbaren Schauspielkunst und poetische Bilder, die nachwirken: So wie Jules Stein, den sie - noch ahnungslos - den Eltern mitbringt und ihnen ein langes und glückliches Leben wünscht. Dieser Stein ist ein weißer Luftballon, der sanft in die Höhe steigt.
» Nächste Aufführungen am 24. und 27. Janaur 2019 sowie am 2. und 23. Februar 2019.