Porträt des Autors Wajdi Mouawad: Dorthin gehen, wo es am finstersten ist
Das Hans Otto Theater eröffnet den Corona-Spielbetrieb mit „Vögel“ von Wajdi Mouawad. Der libanesischstämmige Autor arbeitet sich am Tragödiengenre ab wie kaum ein zweiter.
Potsdam - Die Attentate auf das World Trade Center sind genau 19 Jahre her. Genug Zeit, um einen Menschen ins Erwachsenenalter zu begleiten. Und doch, wie alle Tragödien, gegenwärtig. Auch wenn 9/11 weiter beinahe täglich von anderen Tragödien überlagert wird. Es brennt an so vielen Orten in der Welt gleichzeitig, dass man Dinge ausblenden muss, um nicht den Kopf zu verlieren.
Der libanesische Dramatiker Wajdi Mouawad, Autor des Stückes, mit dem das Hans Otto Theater seine Große Bühne nach den Corona-Beschränkungen wiedereröffnet, tut das Gegenteil. Er blendet nicht aus. Er schiebt die unlösbaren politischen Konflikte des Weltgeschehens nicht von sich weg, sondern zieht sie so nah an sich heran, bis sie vom Persönlichen nicht mehr zu trennen sind. Und er schreibt diese Konflikte nicht klein, bietet keine vermittelnde Ironie, keine Brechung. Kann es Zufall sein, dass sein Stück „Vögel" gerade am 11. September Premiere hat? Der Konflikt zwischen Israel und Palästina, der anti-islamische Rassismus in den westlichen Gesellschaften, die politisch oder religiös motivierten Attentate auf Zivilisten weltweit: Wajdi Mouawad erzählt all das als das, was es ist. Individuelle Tragödien.
Was Mouawad im Theater sucht: einen Moment der Katharsis
Die Tragödie ist auch die Form, die Mouawad auf der Bühne wählt. Als Autor schreibt er sie, als Regisseur inszeniert er die antiken Stücke des Sophokles, mit ungebrochener, düsterer Wucht. Was Mouawad sich vom Theater ersehnt: den Moment der Katharsis. „Einen Moment, in dem jeder, willens oder nicht, anerkennen muss: Etwas in mir hat sich bewegt.“ Dieser Moment ist nicht ohne Anstrengung zu haben.
Geboren wurde Wajdi Mouawad 1968 in der Nähe von Beirut. Hier nahm Mouawads Schreiben seinen Anfang, hierher kehrt es immer wieder zurück. Zehn Jahre später verließ seine Familie, christliche Maroniten, das Land, floh vor dem Bürgerkrieg, der 1975 bis 1990 im Libanon wütete. Bei dem Ereignis, das später als der Auslöser für den Krieg gelten wird, war Mouawad als Kind selbst Zeuge: Am 13. April 1975 greift eine christliche Miliz einen Bus mit wehrlosen palästinensischen Zivilisten an. „Bei allem, was ich schreibe, geht es nur darum“, sagt er gut 40 Jahre später im Intendantenbüro des Pariser Théâtre de la Colline über den Tag. Er leitet das Haus seit 2016.
Wochen vor der Premiere stand Mouawads Geburtsstadt in Flammen
Was man am Hans Otto Theater nicht wissen konnte, als man sich entschied, sein Stück „Vögel“ auf den Spielplan zu nehmen: dass wenige Monate vor der Premiere Beirut in Flammen stehen würde. Als im Sommer dort 2750 Tonnen Sprengstoff explodierten, meldete sich Mouawad in einem Zeitungsartikel zu Wort, der die Korruption der Regierung für die Katastrophe verantwortlich macht. „Alles ist zerstört im Libanon“, schrieb er. „Nicht nur der Beton. Die Zukunft.“
Auch in „Vögel“, dem Stück, das am Hans Otto Theater die aktuelle Spielzeit auf der Großen Bühne eröffnet, steht ein Attentat im Zentrum. Die junge Liebe eines Paares wird von einem Selbstmordattentat auseinandergerissen. Wahida ist Amerikanerin mit arabischen Wurzeln, Eitan ist Deutsch sprechender Jude. Aber eigentlich sind sie vor allem beide Wissenschaftler, und sehr bald sehr verliebt. Sie reisen gemeinsam nach Jerusalem. Erst als sich dort ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt und Eitan schwer verletzt wird, wird die Liebe auf das verkleinert, was sie bislang nur nebenher war: die Liebe zwischen einem Juden und einer Araberin. Eine Unmöglichkeit.
Auszeichnung mit dem ersten Europäischen Dramatikerpreis
Wajdi Mouawad arbeitet sich so intensiv und ungebrochen am Tragödiengenre ab wie wenige andere zeitgenössische Theaterautoren. Am 20. September wird er dafür in Stuttgart den erstmals verliehenen „Europäischen Dramatiker*innen Preis“ erhalten. Im deutschsprachigen Raum wurde er 2006 mit „Verbrennungen“ bekannt – schlagartig: Innerhalb von zwei Jahren wurde das Stück 23 Mal nachgespielt. Auch in Potsdam.
Die Pariser Attentate vom November 2015 rückten die von Krieg und Gewalt zerrüttete Welt aus Mouawads Stücken und das sich lange Zeit in Sicherheit wähnende Europa so dicht zusammen wie nie zuvor. „Früher, als in Québec und Frankreich Frieden herrschte, erschien das, was ich schrieb, möglicherweise als interessante Außenperspektive. Aber auf einmal war der Orient da. Auf einmal hat die Wirklichkeit das Theater eingeholt.“
Bettina Jahnke: „Die Unversöhnlichkeit erinnert mich an das Hier“
Für Intendantin Bettina Jahnke, die die Potsdamer Fassung inszeniert, steht nicht der Nahost-Konflikt im Vordergrund, nicht der Libanon. „Wie schwierig ist es, aus der subjektiven Wahrheit in eine gemeinsame Sprache zu kommen, darum geht es für mich. Egal ob uns die Religion trennt, die Partei oder einfach andere Ansichten“, sagt sie. Wenige Tage, nachdem in Berlin von Rechtsextremen symbolisch der Reichstag erstürmt worden war. „Diese Unversöhnlichkeit erinnert mich ganz stark an das Jetzt und Hier.“
Man muss immer dorthin gehen, wo es am finstersten ist, sagt Wajdi Mouawad. Seitdem er Leiter des Théâtre de la Colline ist, schreibt er jedes Jahr ein Manifest. Der Titel für 2020 lautet: „Für den Schatten“. Ein kraftvolles Plädoyer für all das, was sich der Vernunft entzieht. „Das Geheimnis. Das Mysterium. Der Widerstand.“
Die Premiere von "Vögel" am 11. September im Haus am Tiefen See ist ausverkauft. Restkarten gibt es für die Vorstellungen am 12., 17., 25., 26. und 27. September.
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