Kultur: Im Dreck der Vergangenheit
Das Stück „Verbrennungen“ hatte am Hans Otto Theater Premiere
Das sitzt. Simons Mutter ist gestorben, mit seiner Zwillingsschwester Jeanne ist er jetzt beim Notar, um das Testament anzuhören. Schweigend sitzen die Geschwister während der Testamentseröffnung. Als der weinerliche, vor Mitgefühl schier überfließende Notar (Andreas Herrmann) die letzten Wünsche endlich verlesen hat, sagt Simon (Henrik Schubert), dass seine Mutter ihn mal könne. Er sagt allerdings nicht „Mutter“. Sondern „die Nutte“, der „Arschfick der Nation“.
So beginnt „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad, das am Freitag am Hans Otto Theater Premiere hatte. Das Schockierende daran ist nicht eigentlich die schamlose Art, auf die der Sohn die Mutter beschimpft. Sondern die Tatsache, dass Simon, wie der Stückverlauf zeigt, auf perfide Art Recht hat. Als Folteropfer und Gefangene wurde die Mutter einst zu dem gemacht, womit der Sohn sie nach ihrem Tod nichtsahnend betitelt. Noch aber liegt die Vergangenheit im Verborgenen, noch glauben die Zwillinge, ihre Mutter sei einfach eine störrische Frau gewesen. Die letzten fünf Jahre ihres Lebens hat sie geschwiegen. Ihre testamentarischen Enthüllungen bringt für Simon das Fass zum Überlaufen: Der totgeglaubte Vater sei noch am Leben, und einen weiteren Bruder hätten die Zwillinge auch. Beide sollen die Geschwister nun aufstöbern.
Nichts in „Verbrennungen“ ist einfach und normal. Das Stück beschreibt eine Welt, die sich nicht kennt, deren Wahrheit die Irrationalität von Krieg und Gewalt verschleiert hat. Die Protagonisten müssen ihre wahre Herkunft erst finden. Der Weg dorthin führt in die Vergangenheit der Mutter Nawal (Meriam Abbas). Das Land, aus dem sie kommt ist ein namenloser Ort, dessen Geschichte von Vertreibung und Bürgerkrieg bestimmt ist. Autor Wajdi Mouawad ist im Libanon geboren. Einiges deutet auf den dortigen Bürgerkrieg, doch der Konflikt im Stück bleibt allgemein. Die Zwillinge kennen ihn nicht, sie sind einem anderen, friedlichen Land aufgewachsen. Wieder eine Parallele zum Autor: Mouawad emigrierte als Kind nach Kanada, erst als Erwachsener beschäftigte er sich mit der Heimat. Ähnlich geht es den Zwillingen: Spät, mit dem Testament der Mutter erst beginnen sie, sich um Vergangenes zu scheren.
Die schrittweise Entschleierung der Vergangenheit wird durch das Bühnenbild von Matthias Schaller verbildlicht: Eine große, nach und nach verschwindende Wand aus Glas trennt die Bühne in Vorder- und Hintergrund. Die Zwillinge aus dem Jetzt sitzen vorn auf weißen Sesseln, die Szenen aus Nawals Jugend spielen blechbüchsig hinter der Wand. Zwischen beide Welten senkt sich in regelmäßigen Abständen ein dünner Vorhang aus Regen. Das hat in der Inszenierung von Petra Luisa Meyer nichts Reinigendes, sondern ist eine permanente Erinnerung an den Tod: Es regnete, als Nawal starb. Überhaupt vermeidet die Regisseurin menschelnde Momente. Auch dort, wo sie möglich wären. Der Pfleger, der sich im Krankenhaus um die Mutter kümmerte (Philipp Mauritz) ist ein eher grimmiger Helfer, die Frau, der die junge Nawal das Lesen beibringt anfangs eine ziemliche Kratzbürste (Nina El Karseh). In einer Welt, wo alle Blessuren ertragen haben, regiert das Misstrauen.
„Verbrennungen“ ist Kriegsgeschichte und Familientragödie von griechischem Ausmaß – schweres, fast unverdauliches Material. Gegen die Schwere setzt Petra Luisa Meyer behutsame Übertreibung, Ironisierung. In der Tat überzeugt die Inszenierung am meisten dort, wo der kaum erträgliche Schmerz, den die Entdeckungen der Geschwister mit sich bringen, gebrochen wird. Philipp Mauritz als karrikierter arabischer Fremdenführer trägt zu der Brechung bei, ebenso die eingeflochtenen Songs von Madonna, über The Police zu Harry Belafonte.
Auch die Hauptdarsteller berühren am meisten, wo sie nicht nur leiden, sondern ihre Charaktere eine Winzigkeit hinter sich lassen. Wie Nicoline Schuberts Jeanne sich etwa verzweifelt an ihr altes Leben klammert, „Ich bin ein Wunschkind!“ und „Ich hab einen Heldenvater!“ brüllt und dabei die Faust in die Luft reckt, zeigt zugleich, wie unhaltbar ihr alter Lebensentwurf ist und wie sehr es weh tut, ihn zu verlieren. Oder wenn Meriam Abbas als reife Nawal ihre Peiniger anklagt, dabei immer wieder knietief im Schlamm versinkt und dennoch von Würde spricht. Dann ist das ein in seiner tragischen Komik einprägsames Bild für den verzweifelten, letztlich vergeblichen Versuch, aus einem Dreckloch, dass man selbst nicht gegraben hat, sauber hervorzugehen.
Wieder am 18. November um 15 Uhr.
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